johanneische Grammatik
Hallo,
auch wenn wir es seit Jahren von deinen Fragen und Antworten im Reli-Brett kennen: Leider ist alles so kryptisch und elliptisch formuliert, daß man immer rätseln muß, was du eigentlich meinst, bzw, wissen willst. Und wenn ich es nicht aus deinen „Diskussionen“ mit Nicht-Experten ebendort ahnen würde, wonach du hier fragst, wäre es auch nicht zu entziffern. Ich versuche also mal zuerst deine Frage zu rekonstruieren.
Es geht um die Passage im Joh.-Ev. 8.58
… πρὶν Ἀβραὰμ γενέσθαι, ἐγὼ εἰμί.
und zwar speziell um die Übersetzung des ἐγὼ εἰμί.
Die grammatisch korrekte, also nicht ideologisch voreingenommene Übersetzung lautet:
„… bevor Abraham wurde, bin ich.“
und zwar nicht nur die der (semi-interlinearen) Ausgabe „Münchner Neues Testament“, Düsseldorf 1988.
Eine nicht ganz falsche, aber dem für die johanneische Literatur des NT charakteristischen und sehr häufigen Gebrauch des johanneischen γιγνομαι bzw. γιγνεσθαι nicht gemäße Variante des Nebensatzes ist:
„… bevor/ehe Abraham geboren wurde …“
denn die Extension von γιγεσθαι beinhaltet
„entstehen“ (Joh. 1.3),
„auftreten, in Erscheinung treten“ (Joh. 1.6)
„geschehen“ (Joh. 1.28)
„(etwas) werden“ (Joh. 1.14, 6.17), und durchaus auch
„gezeugt werden, geboren werden“ (Röm 1.3), aber der Joh.-Autor verwendet dafür durchweg konkreter γενναω (1.13, 3.3-5) und nicht γιγνομαι.
Andere Übersetzungen des Nebensatzes sind tendenziös oder vielmehr „didaktisch“, jedenfalls aber überflüssig und irreführend, gefärbt:
„… ehe Abraham in Erscheinung trat…“
„… ehe Abraham ins Dasein kam …“
„… ehe es einen Abraham gab …“
und werden dem johanneischen Gebrauch von γιγνομαι nicht gerecht.
Die Konstruktion mit πρὶν ist ein " A.c.I.": πρὶν (bevor/ehe) Ἀβραὰμ (Akkusativ) γενέσθαι (Infinitiv Aorist ), wobei der Aorist wie üblich mit dem Präteritum („wurde“), wiederzugeben ist. Seltener, und kontextabhängig, mit Perfekt („geworden ist“).
So, und nun zu deiner eigentlichen Frage, die das ἐγὼ εἰμί betrifft.
εἰμί („bin“) ist ja 1.Pers. Sing. Präs. Indikativ, und nun erwähnst du die „Neue Welt Übersetzung“ der Zeugen Jehovas
Diese Sondergemeinschaft
die hier das Präsens perfektisch übersetzt
„… ehe Abraham ins Dasein kam, bin ich gewesen.“ In der engl. Version:
„… before Abraham came into existence, I have been.“
Und um diese Frage geht es dir: Wie begründet der Kommentarder ZJ die Wiedergabe des Präsens in seinen Übersetzungen mit dem Perfekt?
In der deutschen Version der NWÜ, Anhang 6F, wird so argumentiert:
„Die Handlung, die in Joh 8:58 ausgedrückt wird, begann „ehe Abraham ins Dasein kam“, und dauert noch an. In einer solchen Wortfügung wird eimí …richtigerweise im Indikativ Perfekt übersetzt.“ Und sie geben dazu Beispiele wie (ich nehme nur das am wenigsten fragwürdige):
Joh. 15.27: … ὅτι ἀπ’ ἀρχῆς μετ’ ἐμοῦ ἐστε.
„… weil ihr von Anfang (an) bei mir seid.“
wo ZJ aber übersetzt:
„… weil ihr bei mir gewesen seid , seitdem ich begann.“ (Auf den himmelschreienden Unsinn des letzten Satzteils gehe ich hier nicht ein.)
Der ZJ Kommentar zitiert auch noch einen G.B. Winer, Leipzig 1867 „Zuweilen schließt das Präsens ein Präteritum mit ein …“ (Hervorhebung von mir), der das begründet u.a ebenfalls mit Joh. 8.58. Mal abgesehen von dem Unsinn (Präteritum ist ja nicht Perfekt),
Diese Argumente gehen komplett an dem Wesentlichen und Spezifischen der johanneischen Zeit-Philosophie vorbei. Das Präsens in den Zitaten, die der Joh.-Autor Jesus in den Mund legt, hat systematischen theologischen Sinn: Das Präsens in den Aussagen Jesu, dessen „hier und jetzt“, interpretiert er (der Autor) nämlich als aus der Zeitlichkeit überhaupt, aus den Zeitdimensionen, Vergangenheit und Zukunft, herausgenommen. Daher gibt es auch kein „Werden“ für ihn (Jesus), und kein „Gewordensein“. Gerade das ist die Aussage in 8.58! Im Gegensatz zu jedem Gewordensein, welches ein Vergehen oder gar Vergangensein impliziert, ist Jesus (in dieser - speziell johanneischen - Konzeption als „Gesandter Gottes“!) nicht zeitlich. Viele Beipiele finden sich in diesem Ev.-Text: 1.1, 1.30, 3.36, 4.13-14, 4.23, 5.25, 8.23, 17.5, 17.24 usw. usw. Der Joh.-Autor spielt deshalb ganz raffiniert gerade mit zunächst (und nur vordergründig) paradox erscheinden Kombinationen der grammatischen Tempora.
Ich nehme mal nur das futurische Beispiel aus 4.23
… ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν
„… die Zeit kommt und ist jetzt.“
Hier ist auch die übliche Ergänzung „… und ist schon jetzt“ bereits eine Freveltat an der Konzeption des Joh.-Autors, allein, um die bedeutungsschwangere Paradoxie für die heutigen Leser verdaulicher zu vertuschen. Auch die für Arbeit am Text eh völlig unbrauchbare Einheitsübersetzung macht das so:
„… die Stunde kommt und sie ist schon da.“
mit gleich zwei fatalen Fehlübersetzungen.
Die Argumentation der ZJ basiert, wie auch in dem Kommentar Anhang 7F deutlich gesagt, auf der Panik vor den im Joh.-Ev. recht eindeutigen Präexistenz-Aussagen. Das Präexistenz-Theologem wird ja von den ZJ abgelehnt. (Falls du mit diesem Theologem nicht vertraut bist, frag zurück). Sie basiert außerdem auf einer Ablehnung der These mancher Autoren, in diesen und ähnlichen Texten des NT werde von den Autoren Jesus unterstellt, Gott selbst zu sein bzw. dieser behaupte das von sich selbst. Dies ist aber eine These, die schon lange in der Johannes-Forschung (und diese füllt Bibliotheken, das kann ich dir versichern) nicht mehr ernsthaft diskutiert wird.
Und deshalb haben sie versucht, alle Aussagen, insbesondere die mit entsprechenden Tempus-Kennzeichen, durch entsprechende verfälschende oder irreführende Übersetzungen in die bloß relative Historizität zu verzerren. Alle Joh.-Interpreten, Bultmann z.B. (obwohl dessen Kommentar heute sehr kritisch betrachtet wird, aber aus anderen Gründen), Schnackenburg z.B., oder Martin Hengel und sein Schüler Jörg Frey (um die extensivsten und prominentesten heutigen Interpreten zu nennen), aber ebenso die Klassiker wie Origenes, Eriugena, Meister Eckhart, lassen keinerlei Zweifel, daß Joh 8.58 mit „bin ich“ wiederzugeben ist, wenn man nicht die zentralsten Aussagen des Joh.-Ev-Autor systematisch verfälschen will.
Und das ist eben gar keine Frage mehr der Grammatik. Ich erinnere an die Diskussionen zwischen dir und mir 2013 im Reli-Brett, wo du darauf hinwiesest, man müsse zwischen der „kleinen und großen semantischen Ebene“, m.a.W. zwischen einem lokalen und globalen Kontext, unterscheiden bei der Interpretation. Völlig richtig. Und gerade in der johannesischen Literatur ist das von besonderer Brisanz.
Die ZJ-Argumentation dürfte auch eine Eigenart der hebräischen Grammatik bei dem hiesigen Problem verwechseln: Das sog. Perfektum consecutivum: Wenn zwei durch „waw“ verbundene Verben im selben Satz stehen, das erste im hebr. sog. „Perfekt“ (= lat. Perfekt oder lat. Imperfekt), dann steht das zweite im hebr. sog. „Imperfekt“ (= lat. Präsens oder Futur), und letzteres ist daher ebenfalls perfektisch zu übersetzen. Aber das gilt nur, wenn beide Verben dasselbe Subjekt haben. Und gerade das ist ja in Joh. 8.58 nicht der Fall. Und in der griechischen Grammatik gibt es eine solche Regel eh nicht.
Gruß
Metapher