Einige Theorien und Thesen dazu
Hi.
Am Schluss meiner Antwort hatte ich einen philosophischen Bezug schon angedeutet. Hier aber mehr dazu. Zunächst ein paar Passagen aus einem älteren Text von mir zum Thema Aristoteles vs. Sophisten und Theologie vs. Naturrecht:
"Nicht erst der Staat oder einzelne Denker produzieren und definieren die Werte von Recht und Moral, vielmehr glaubt Aristoteles, an Platon angelehnt, dass diese unabhängig von der Existenz staatlicher Gebilde in einem Zustand zeitlos-ontologischer Idealität jeder Geschichtlichkeit präexistieren. Staaten gelten ihm als Produkt eines an transzendenten Werten orientierten Handelns der Individuen.
Anders über Staat und Moral denken, lange vor Aristoteles, in einer Gegenbewegung gegen Mythosdenken und Metaphysik die Sophisten, die Aufklärer des 5. Jahrhunderts v.u.Z.: dass der Staat das Resultat einer Übereinkunft sei zwischen von Natur aus selbstsüchtigen Individuen, und dass Gut und Gerecht Tugenden bezeichnen, die von einer die staatliche Macht innehabenden Gruppe zunächst definiert und erst dann als allgemeinverbindlich gesetzt werden. Ästhetische, moralische, rechtliche Werte - „was in diesen Dingen der Staat für eine Meinung faßt und dann als gesetzmäßig feststellt, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit“, meint der bedeutendste der Sophisten, Protagoras, übrigens ein überzeugter Anhänger der attischen Demokratie, weil sie den menschlichen Egoismus besser zu zügeln vermag als andere Staatsformen.
Ausgehend von der platonisch-aristotelischen Auffassung der Weltordnung als einer vollkommenen statischen Vernunftstruktur, die der menschliche Geist denkend entschlüsseln könne, hatten neuzeitliche Denker wie Grotius oder Pufendorf eine universale Rechtsordnung - das vernünftige Naturrecht - postuliert, die sich als Alternative für das im Verfall befindliche christlich-mittelalterliche Dogma eines von ‘Gott’ gesetzten moralischen Rechts anbot. Der Schritt führt also vom guten Recht zum vernünftigen Recht: ein Gesetz ist nicht zu befolgen, weil es die (christliche) Moral, sondern weil es die Vernunft befiehlt.
Faktoren wie der Aufstieg der Naturwissenschaften (d.h. der Einsicht in eine irgendwie gesetzmäßig strukturierte Natur), der immer stärker sich formierende politisch und ökonomisch motivierte Widerstand nichtklerikaler Teile der Gesellschaft gegen die Macht klerikaler Institutionen, die Spaltung der Kirche in zwei verfeindete Konfessionen (was in the long run zur Marginalisierung der Theologie als Autorität in Rechtsfragen führt), all dies stärkt das Bedürfnis nach einer Rechtsinstanz, die dem Menschen übergeordnet ist, aber nicht bloß deswegen befolgt werden muss, weil das Recht göttlichen Ursprungs und Gottes- und damit Rechtsgehorsam etwas ‘Gutes’ ist, sondern weil der Mensch kraft seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit den vernünftigen Sinn der Gesetze direkt erfaßt und bejaht. Ein solches Recht kann nur ein durch die allen Menschen eingeborene Vernunft einsehbares ‘natürliches’ Recht sein.
Auch der Pionier des Völkerrechts, Grotius, bleibt zwei Generationen vor Locke auf halbem Wege stehen - wer weiß, in welche Verließe der Inquisition ihn der ganze Weg geführt hätte - und räumt die göttliche Herkunft des natürlichen Rechts ein; nur sei dieses Recht aus sich heraus so einleuchtend vernünftig, dass sogar die hypothetische Annahme, es gäbe keinen Gott, der Gültigkeit des Naturrechts keinen Abbruch täte. Immerhin ein klarer Wink."
Der Philosoph George Moore bezeichnete das Naturrecht 1903 als naturalistischen Fehlschluss. Man sollte aber diesen Begriff nicht überbewerten. Genau das deutete ich ja in der vorigen Antwort an.
Hier die Anschauungen anderer Philosophen, Habermas und Hegel, zitiert aus Wikipedia (also kein streng wissenschaftlicher Anspruch):
"Habermas untersucht das Verhältnis von Recht und Moral. Rechtliche und moralische Regeln differenzieren sich gleichzeitig aus traditionaler Sittlichkeit aus und „treten als zwei verschiedene, aber einander ergänzende Sorten von Handlungsnormen nebeneinander“. [91] Das Recht unterscheidet sich von der Moral dadurch, dass es sich nicht primär auf den freien Willen, sondern auf die individuelle Willkür richtet, auf das äußere Verhältnis von Personen bezieht und mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist. [92]
Habermas geht auf die platonische „Verdoppelung“ des Rechts als positives und natürliches Recht ein. Dem liege die Intuition zugrunde, dass das positive Recht das natürliche abbilden solle. Diese Intuition sei nicht in jeder Hinsicht falsch, „denn eine Rechtsordnung kann nur legitim sein, wenn sie moralischen Grundsätzen nicht widerspricht. Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben.“
(Aus: Wiki - Habermas)
Hegels Sicht dazu:
"Naturrecht und positives Recht
Hegel steht der naturrechtlichen Tradition nahe. Der Begriff „Naturrecht“ ist für ihn allerdings verfehlt, da er die Zweideutigkeit enthält, „daß darunter 1) das Wesen und der Begriff von etwas verstanden wird und 2) die bewußtlose unmittelbare Natur als solche“. [23] Der Geltungsgrund von Normen kann für Hegel nicht die Natur, sondern nur die Vernunft sein.
Naturrecht und positives Recht sind für Hegel komplementär. Das positive Recht ist konkreter als das Naturrecht, da es in Beziehung gebracht werden muss zu empirischen Rahmenbedingungen. Die Fundierung des positiven Rechts kann aber nur mittels des Naturrechts erfolgen.
Freiheit und Recht
Das konstituierende Prinzip naturrechtlicher Normen ist der freie Wille (R 46). Der Wille kann nur dann frei sein, wenn er sich selbst zum Inhalt hat: Erst „der freie Wille, der den freien Willen will“ (R 79), ist wahrhaft autonom, da in ihm der Inhalt durch das Denken gesetzt ist. Dieser Wille bezieht sich auf nichts Fremdes mehr; er ist zugleich subjektiv und objektiv (R 76f.). Das Recht ist nach Hegel identisch mit dem freien Willen. Es ist daher keine Schranke der Freiheit, sondern deren Vollendung. Die Negation der Willkür durch das Recht ist in Wahrheit eine Befreiung. Hegel kritisiert in diesem Zusammenhang die Rechtsauffassung Rousseaus und Kants, die das Recht als etwas Sekundäres gedeutet hatten und macht diese „Seichtigkeit der Gedanken“ für die Schrecken der Französischen Revolution mit verantwortlich (vgl. R 80f.)."
(Aus: Wiki - Hegel)
Hegel sah bekanntlich keine absolute Schranke zwischen Subjekt und Kosmos. Von daher ist sein Subjekt zur Einsicht in absolute Wahrheit, also auch absolute Rechtsprinzipien, fähig. Willkür ist keine Freiheit, sondern falsches Bewusstsein. Von daher ist Recht ein Medium oder Instrument universeller Wahrheit. Gemeint ist aber nicht das positive Recht (das irren kann).
Der Rechtspositivismus ist meiner Ansicht nach zu beschränkt in seinen Voraussetzungen. Sein Problem war, dass das Naturrecht noch partiell von der christlichen Theologie geprägt war, also Mängel aufwies, die der RP mit dem anderen, wieder einem falschen Extrem (dem Relativismus) beheben wollte. Ich denke, es gibt eine kosmische Quelle des Guten (allerdings weder der christliche Gott noch eine abstrakte Vernunft).
Gruß