Zitat aus dem Aufsatz: Zwischen Sie und Du, von Dieter E. Zimmer, im Buch „Deutsch und anders - die Sprache im Modernisierungsfieber“:
„Am Anfang war das allgemein Du. Bis zum Beginn des Mittelalters war es im Deutschen die einzige Anrede. Im neunten Jahrhundert trat das hochgestellten Personen vorbehaltene Ihr dazu. Die dahinterstehende Logik muss gelautet habe: Mehrere sind besser als einer, also tun wir so, als sei der Höhergestellte mehrere Personen in einer - Qualität ausgedrückt durch Quantität.
Auch die römischen Kaiser sprachen von sich im Plural, dem Pluralis maiestatis. (Der Plural, in dem Autoren zuweilen von sich selbst reden, soll genau das Gegenteil sein, ein Pluralis modestatiae, der Bescheidenheit, der ihm erspart, mit einem aufzutrumpfen, wird aber gern missverstanden.)
Bis zum siebzehnten Jahrhundert blieb es beim Nebeneinander von Du und Ihr: jenes die Anrede unter Vertrauten, dieses als respektvolle Anrede an Fremde.
Dann trat eine weitere Differenzierung hinzu: das Er beziehungsweise Sie, Zunächst für höhergestellte bestimmt (Verzeih sie mir meine Zudringlichkeit [an eine Frau]), das aber bald seinen Ehrerbietungscharakter einbüßte, zu einer distanzierenden Anrede an Untergeordnete absank (Er kann mich mal …) und als zu unhöflich im neunzehnten Jahrhundert ganz von der Bildfläche verschwand, eine Entwicklung, die sicher vom Aufkommen einer neuen Höflichkeitsform gefördert wurde, dem Plural-Sie, die dann auch das alte Ihr verdrängte. Ursprünglich handelt es sich um den pronominalen Bezug auf pluralische Anredeformeln wie oder und wurde dann auch groß geschrieben (So Euer Gnaden geruhen … werden Sie in mir einen treuergebenen Diener finden …), aber bald machte es sich selbstständig, und niemandem mehr kam es seltsam vor: dass man seinen Gesprächspartner anredete, als wäre er mehrere abwesend Personen.
So dass im neunzehnten Jahrhundert nur noch zwei Anreden übrig waren: das Du für vertraute und das Sie für fremde Menschen. Jede Anrede eine Entscheidung zwischen intimem Duzen und distanzierendem Siezen. Ein Du am unrechten Ort war eine Zudringlichkeit oder der Beleidigung. Es riss einseitig die Distanz ein.
Das Du, das Deutsche bis heute zuweilen für ihnen persönlich unbekannte Ausländer übrig haben, ist von dieser Sorte: ein Ausdruck der Verachtung. Nur im Proletariat und dann in der Arbeiterbewegung blieb Du die Regelanrede unter gleichgestellten Erwachsenen, auch wo sie nicht persönlich miteinander bekannt waren."