Hallo Metapher,
erst mal vielen Dank für Deine ausführliche, anregende Antwort. Schade, daß man nicht mehr als einen Bewertungspunkt vergeben kann…
der Autor hat hier offenbar Whitehead gründlich mißverstanden.
Oder ich habe den Autor gründlich mißverstanden, oder der Autor hat Whitehead ein bißchen mißverstanden und ich habe den Autor ein bißchen mißverstanden und die Mißverständnisse summieren sich dann zu einem gründlichen Mißverständnis… *g*
Whitehead handelt nicht von einer quantisierten Zeit (obwohl
es diesbezügliche Überlegungen in der Geschichte der
Quantenmechanik zahlreiche gab und gibt - aber Vorsicht, diese
können leicht mißverstanden werden). Er hat dagegen einen
Begriff eines „Quantums der Zeit“ (dazu gleich etwas).
Auch geht es Whitehead keineswegs um eine Auflösung des
Achilles-Paradoxons. Daß dieses schlicht in einem
mathematischen Irrtum besteht, war Whitehead ebenso
selbstverständlich, wie jedem anderen, der sich je damit
befaßt hatte: Bestimmte unendliche geometrische Reihen haben
endliche Grenzwerte. Dabei ist allerdings von Raum und Zeit
Kontinuität im Sinne des Aristoteles vorausgesetzt
(Teilbarkeit ad infinitum),
Genau so habe ich das Achilles-Paradoxon bisher auch verstanden. Der Autor schreibt aber tatsächlich:
„Aber was wäre, wenn die Zeit nicht uendlich teilbar wäre, wenn es so etwas wie Zeitquanten gäbe, die sich zeitlich nicht weiter zergliedern lassen, innerhalb derer sich aber dennoch eine Bewegung vollziehen kann, die eine Überbrückung des Raums in einem einzigen Akt ermöglicht, so daß auch dessen unendliche Teilbarkeit keine Rolle mehr spielt? Gäbe es solche Zeitquanten, dann ließe sich nicht nur erklären, wie Achilles die Schildkröte überholen kann, sondern auch, wie sich der Pfeil bewegen kann, da dieser ja dann in jedem Augenblick seines Fluges in Bewegung wäre.“
Das Paradoxon des „bewegungsunfähigen Pfeils“, wie der Autor das nennt, wird auch im vorigen Kapitel beschrieben, der Gedankengang ist etwa folgender: Wenn wir uns fragen, wie die Zeit zusammengesetzt ist, kommen wir zu dem Schluß, daß sie offenbar aus Zeitpunkten besteht, die selbst keine zeitliche Ausdehnung haben (wie Punkte auf einer Strecke, die selbst keine Dimension haben, aber zusammen eine ausgedehnte Strecke ergeben). Bewegung stellen wir uns aber so vor, daß das sich bewegende Objekt (z.B. ein abgeschossener Pfeil) in einem Augenblick hier, in einem folgenden Augenblick woanders ist. Daraus folgt, daß der fliegende Pfeil sich in jedem Augenblick seines Fluges in Ruhe befindet, weil sich der Augenblick eben zeitlich nicht weiter zergliedern läßt. Wie kann sich aber Bewegung aus einer Folge von Ruhezuständen zusammensetzen (bzw. wie kann sich eine Strecke aus einer Anhäufung von dimensionslosen Punkten zusammensetzen)?
So wie ich das sehe (ich bin philosophischer Laie, wie Du sicher schon bemerkt hast), ist die Idee von den „Zeitquanten“ (was auch immer das jetzt genau sein soll) vielleicht als Lösungsansatz für das Problem mit dem bewegungsunfähigen Pfeil gedacht, aber nicht für das Achilles-Paradoxon.
auch wenn Zenon diesen Begriff
noch nicht hatte. Zenon ging es dabei um etwas anderes,
Um was genau? Hat das mit dem bewegungsunfähigen Pfeil zu tun? Diese Problemstellung finde ich nämlich viel schwieriger als die mit Achilles und der Schildkröte.
denn
er wußte ganz sicher, daß Achilles tatsächlich die Schildkröte
überholen wird *g*.
Das dachte ich mir fast *g*.
Und dazu hat Whitehead Ideen formuliert.
Zu dem anderen, um das es Zenon ging?
Der zentrale Begriff Whiteheads das Ereignis („event“),
dem eine gewisse raumzeitliche Extension zugeordnet werden
kann. Dies handelt er allerdings ab im Rahmen eines Versuchs,
subjektives Zeiterleben mit physikalischen Zeitbegriffen zu
integrieren (das würde allerdings jetzt zu weit ausholen). Der
Begriff des Ereignisses hat, wie viele
Whitehead-Interpreten konstatieren, eine gewisse
Verwandtschaft mit der Leibnizschen Monade …
Diese dem Ereignis zustehende intrinsische Zeit nennt er hier
und da „quantum of time“. Was damit gemeint ist, macht er u.a.
in „The Concept of Nature“ deutlich am Beispiel einer gehörten
Melodie („tune“): Man hört die Melodie als Melodie nicht in
einzelnen Zeitpunkten der Zeitspanne, in der sie sich
abspielt. Daher ist die Dauer der Melodie zeitlich atomar: Ein
Quantum.
Ein solches Quantum der Zeit kommt allerdings nicht allen
Objekten zu, sondern nur solchen, die er als „non-uniform
objects“ bezeichnet, also solchen, die eine intrinsische
Zeitstruktur haben, also „Ereignisse“ sind: Dazu ein Zitat aus
„The Concept of Nature“ [Chap. VII „Objects“]:
It is not every object which can be located in a moment. An
object which can be located in every moment of some duration
will be called a ‚uniform‘ object throughout that duration.
Ordinary physical objects appear to us to be uniform objects,
and we habitually assume that scientific objects such as
electrons are uniform. But some sense-objects [!] certainly
are not uniform.
Also, ein einzelner, gleichförmiger Ton, der über eine bestimmte Zeitspanne gehalten wird, z.B. ein von einem Synthi erzeugter Sinuston, wäre dann ein „uniformes Objekt“, aber z.B. ein Ton, der auf dem Klavier angeschlagen wird, eigentlich schon nicht mehr, weil ein Klavierton eine bestimmte An- und Abschwellphase (in der Lautstärke) durchläuft, und deshalb nicht in jedem Moment seiner Dauer gleich klingt, d.h., wenn man einen Zeitabschnitt, der klein genug ist, aus der Dauer des Klaviertons herausgreift und nur diesen kleinen Abschnitt hört, wäre der Klavierton nicht mehr als Klavierton zu identifizieren. So etwa?
Daß ausgerechnet ein Elektron als „uniformes Objekt“ bezeichnet wird, irritiert mich etwas, weil nach meinem laienhaften physikalischen Wissen doch der Aufenthaltsort eines Elektrons immer nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann und ein Elektron, um es mal salopp zu formulieren, überhaupt ein irre kompliziertes Ding ist.
Und so ein Beispiel ist eben u.a. eine Melodie:
We perceived it as a whole in a certain duration; but
the tune as a tune is not at any moment of that
duration though one of the individual notes may be located
there. [Hervorhebung von mir]
Nebenbei bemerkt war dieser Gedankengang bereits seit mehr als
1500 Jahren bekannt, nämlich durch Augustinus in seiner
Analyse des Zeitbegriffs (Confessiones, Buch XI).
Was Whitehead (auch in diesem Zenon-Zusammenhang) mit der
„epochalen Theorie der Zeit“ meint, wird dir sicher deutlich,
wenn du dir einmal in „Prozess und Realität“ die folgenden
Abschnitte vornimmst:
Erster Teil, Kap. III,2 („Einige abgeleitete Begriffe“)
und dann:
Zweiter Teil, Kap II,2 („Das extensive Kontinuum“). Das ist
das Kapitel, wo er auch William James diskutiert.
Ich finde das Thema sehr interessant, bin aber, wie gesagt, philosophischer Laie. Soll ich in die Bibliothek gehen, und mir das Buch ausleihen, oder habe ich ohne philosophische Vorbildung keine Chance auf Verständnis?
Noch zu deiner Frage nach Zeitquantelung ohne Raumquantelung:
Sehr wohl ist das konsitent denkbar, allerdings nur zugleich
mit einem verändeterten Begriff der Bewegung: Instantane
Ortsveränderung ereignet sich dann ohne intermediäre Bewegung
durch den Zwischenraum.
Verstehe ich nicht so ganz. Also, erst ist das sich bewegende Objekt an einer bestimmten Stelle, dann (durch den „Einsatz“ eines Zeitquants), ohne den dazwischenliegenden Raum zu durchlaufen, an einer anderen Stelle? So nach dem Motto: „Beam me up, Scotty“? Ist das eine philosophische oder eine physikalische Theorie? Von wem?
Nochmal danke für Deine ausführliche Antwort, sie hat mir auf jeden Fall Stoff zum Nachdenken geliefert.
Gruß, Nick