Die Illusion des Ich (Alan Watts)
Echter Humor ist Lachen über sich selbst, echtes Menschsein ist Bewußtsein von sich selbst. Lebewesen mögen zwar lieben und lachen, sprechen und denken, doch es scheint als einziges den Menschen vorbehalten, zu reflektieren. Sie denken über ihr Denken nach und wissen, daß sie wissen. Wie andere Rückmeldesysteme auch kann dies, wenn es nicht richtig gehandhabt wird, zu Teufelskreisen und Verwirrungen führen, doch erst durch das Bewußtsein des eigenen Selbst wird die menschliche Erfahrung resonant. Es verleiht allem, was wir fühlen und worüber wir nachdenken, das gleichzeitige „Echo“, so wie eine Violine zum Klang ihrer Saiten vibriert. Es verschafft allem, was sonst seicht und schal wäre, Tiefe und Substanz.
Selbsterkenntnis führt dazu, daß wir staunen, und aus diesem Staunen erwachsen Neugier und Nachforschung, so daß sich die Leute für nichts mehr interessieren als für Leute, auch wenn es nur die eigene Person ist. Jeder intelligente Mensch möchte wissen, wie er funktioniert, und ist fasziniert und frustriert zugleich, wenn er auf die Tatsache stößt, daß die eigene Person am schwierigsten zu erfassen ist. Der menschliche Organismus besitzt offensichtlich im Verhältnis zu allen anderen Organismen den höchsten Grad an Komplexität, und während man einerseits den Vorteil genießt, den eigenen Organismus so intim - nämlich von innen - zu kennen, hat man andererseits auch den Nachteil, daß man ihm zu nahe ist, um ihn jemals wirklich erfassen zu können. Nichts entzieht sich der bewußten Betrachtung so sehr wie das Bewußtsein selbst. Deshalb nannte man paradoxerweise den Grund alles Bewußten das Unbewußte.
Die Menschen, die wir am liebsten als primitiv und unsensibel bezeichnen möchten, sind einfach diejenigen, die nichts Faszinierendes am Menschsein zu finden scheinen, ihr menschliches Wesen ist nicht vollständig, weil sie nie darüber gestaunt haben. Auch scheint denen etwas zu fehlen, die nichts Faszinierendes am Sein empfinden. Man könnte sagen, dies wäre das durch den Beruf bedingte Vorurteil eines Philosophen - daß mit den Leuten etwas nicht stimmt, die keinen Sinn für das Metaphysische haben. Aber jeder, der überhaupt denkt, ist automatisch ein - guter oder schlechter - Philosoph, denn man kann nicht denken ohne Prämissen, ohne grundlegende (und in diesem Sinn metaphysische) Annahmen darüber, was vernünftig ist, wie man ein gutes Leben führt, was Schönheit und was Freude ist. Solche Annahmen - bewußt oder unbewußt - zu hegen heißt Philosophieren. Der Mensch, der sich selber als „praktisch orientiert“ bezeichnet und die Philosophie nur für einen Haufen dummes Geschwätz hält, ist selbst ein Pragmatiker oder ein Positivist, und obendrein noch ein schlechter, weil er über seinen geistigen Standort noch nicht nachgedacht hat.
Wenn der menschliche Organismus faszinierend ist, dann ist es seine Umwelt ebenso, und zwar die Umwelt nicht lediglich im Sinne einer Ansammlung von bestimmten Dingen und Ereignissen. Der Chemiker, der Biologe, der Geologe und der Astronom ist fasziniert von Einzelheiten unserer Umwelt, doch die Metaphysik ist Faszination vom Ganzen. Ich kann mir nahezu unmöglich einen einigermaßen feinfühligen Menschen vorstellen, der sich nicht über letzte Gründe und Zusammenhänge Gedanken macht, der nicht diesen wunderbaren Drang in sich verspürt, eine Frage zu stellen, die sich nicht so recht formulieren läßt. Wenn, wie wir argumentiert haben, das einzig wahre Atom das Universum ist (wie Teilhard de Chardin sagt), und das einzige wahre Ding alles, was ist es dann?
Doch in dem Augenblick, wo ich die Frage gestellt habe, muß ich sie schon in Frage stellen. Welche Antwort könnte man auf eine solche Frage überhaupt geben? Normalerweise antwortete man auf die Frage: „Was ist es?“ damit, daß man das den Gegenstand der Frage bildende Ding oder Ereignis in eine Klasse einordnet, also beispielsweise erwidert: „Ein Tier“, „ein Gemüse“ oder „ein Stein“, ein „fester“, „flüssiger“ oder „gasförmiger“ Körper, oder ein „laufendes“, „springendes“ oder "gehendes " Wesen. Doch in welche Klasse läßt sich alles einordnen? Was kann man über alles sagen? Definieren heißt einschränken, Grenzen setzen, Vergleiche ziehen und Gegensätze aufstellen, daher scheint sich das Universum, das Alles, einer Definition zu entziehen. An diesem Punkt kommen offensichtlich die absoluten Grenzen unseres Verstandes zum Vorschein, und man kann jetzt sehr wohl das Argument bringen, daß es ein Mißbrauch des Verstands sei, eine solche Frage zu stellen. Wie niemand, der alle seine Sinne beisammen hat, die Tagesnachrichten in einem Wörterbuch suchen würde, so würde niemand die Sprache und das Denken benutzen, um das herauszufinden, was unaussprechlich und undenkbar ist. Rein logisch gesehen hat also die Frage: „Was ist das alles?“ keinen Sinn, so tiefgehend sie auch zu sein scheint. Wittgenstein meinte, daß Menschen, die solche Fragen stellen, unter einer Beeinträchtigung ihres Intellekts leiden würden, die man mit philosophischer Therapie kurieren könnte. Sich philosophisch betätigen heißt nach seiner Auffassung über das Denken in einer solchen Weise zu denken, daß man zwischen wirklichem Denken und Unsinn unterscheiden kann.
Doch die nicht anfechtbare Logik befreit nicht von dem Wissensdrang, der sich - wenn auch am falschen Ort - in dieser Frage ausdrückt. Wie ich schon zu Anfang sagte, es ist einfach unglaublich seltsam, daß überhaupt etwas geschieht. Doch wie kann ich dieses Gefühl in die Form einer vernünftigen Frage bringen, auf die sich eine zufriedenstellende Antwort finden läßt? Vielleicht ist der Witz an der Sache der, daß ich nicht nach einer verbalen Antwort suche, ebensowenig wie ich, wenn ich nach einem Kuß frage, nicht ein Stück Papier mit den Worten „Ein Kuß“ haben möchte. Die metaphysische Frage macht vielmehr das Streben nach einer Erfahrung, einer Vision, einer Offenbarung deutlich, in der sich ohne Worte erklärt, warum das Universum existiert und was es ist - so wie im Liebesakt zum Ausdruck kommt, warum es Mann und Frau gibt.
Man könnte also sagen: die beste Antwort auf die Frage: „Was ist das alles?“ lautet: „Sieh dich um und schau es dir an!“ Doch die Frage impliziert fast immer auch eine Suche nach etwas, was allem zugrunde liegt, nach einer Einheit, die sich mit unserem normalen Denken und Fühlen nicht erfassen läßt. Das Denken und das Fühlen sind analytisch und selektiv, die Welt erscheint uns deshalb lediglich als eine Vielfalt von Dingen und Ereignissen. Der Mensch hat also einen „metaphysischen Instinkt“, der durch die offenkundige Vielfalt der Dinge und Ereignisse nicht befriedigt wird.
Was garantiert uns, daß durch die fünf Sinne alle Möglichkeiten unserer Erfahrung erschöpft sind? Sie vermitteln uns lediglich unsere aktuelle Erfahrung, unser menschliches Wissen um Tatsachen und Ereignisse. Wie es Lücken zwischen den einzelnen Fingern gibt, so gibt es auch Lücken zwischen unseren Sinnen. In diesen Lücken ist das Dunkel, in dem sich der Zusammenhang zwischen den Dingen verbirgt … Dieses Dunkel ist die Ursache für unsere vagen Ängste und Befürchtungen, aber auch die Heimstätte der Götter. Sie allein sehen die Zusammenhänge, die gesamte Bedeutung jedes einzelnen Ereignisses, das, was nur in Bruchstücken zu uns dringt, die „Zufälle“, die nur in unseren Köpfen, in unserer beschränkten Wahrnehmung existieren.* Idris Parry: „Kafka, Rilke and Rumpelstiltskin“. The Listener, British Broadcasting Corporation, 2. Dezember 1965, S. 895.
Der Mensch ist sich also intuitiv sicher, daß die ganze Vielfalt von Dingen und Ereignissen zu irgend etwas in Beziehung steht wie Reflektionen zu einem Spiegel, Töne zu einer schwingenden Membran, Licht und Farben zu einem Diamanten oder die Worte und die Musik eines Liedes zu dem Sänger, der es singt. Das liegt vielleicht daran, daß der Mensch selber ein einheitlicher Organismus ist und daß sich - bedingt durch sein Nervensystem - alle Dinge und Ereignisse in ihm quasi „vereinigen“. Welche Einheit liegt aber allem - einschließlich dem Bewußtsein der Vielfalt von Dingen und Ereignissen zugrunde?
Dieses mysteriöse Etwas ist mit den Bezeichnungen Gott, das Absolute, Natur, Substanz, Energie, Weltall, Äther, Geist, Wesen, das Leere, das Unendliche belegt worden - alles Namen und Gedanken, die je nach den vorherrschenden geistigen Strömungen in ihrer Popularität und Achtbarkeit schwanken, je nachdem, ob man das Universum als sinnvoll oder sinnlos, übermenschlich oder untermenschlich, spezifisch oder vage betrachtet. Alle diese Bezeichnungen könnten als Unsinn abgetan werden, wenn der Begriff des „Urgrunds alles Seins“ lediglich ein Produkt geistiger Spekulation wäre. Doch mit diesen Bezeichnungen will man oft auf den Inhalt einer lebendigen und nahezu konkret spürbaren Erfahrung hinweisen - auf die Erfahrung des „Eins-Seins“ der Mystik, die sich von nebensächlichen Unterschieden abgesehen - in nahezu allen Kulturen zu allen Zeiten findet. Diese Erfahrung ist die veränderte Empfindung des eigenen Selbst, über die ich im vorhergehenden Kapitel gesprochen habe, allerdings unter Verwendung von „naturalistischen“ Begriffen und unter jeglichem Verzicht auf solche nebulosen Begriffe wie Geist, Seele oder Wesen.
Trotz der Tatsache, daß diese Erfahrung universell ist und daß sie mit eindrucksvoller Regelmäßigkeit in derselben Art und Weise beschrieben wird, wird sie von hartgesottenen Typen als eine verbreitet auftretende Halluzination mit charakteristischen Symptomen - vergleichbar einer Paranoia - betrachtet, die nichts zu unserem Verständnis des physikalischen Universums beiträgt. Ebenso wie wir nichts über „alles“ sagen können, so argumentieren sie, können wir nichts über „alles“ empfinden oder erfahren, weil alle unsere Sinne selektiv seien. Wir erfahren auf der Grundlage von Gegensätzen, wie wir auch in Gegensätzen denken. Etwas zu erfahren, was allen Erfahrungen zugrunde liegt, wäre demnach vergleichbar mit dem Sehen des Anblicks dessen, was wir sehen, mit etwas, was allem Gesehenen gemeinsam ist. Mit welchen Farben und welchen Formen - außer mit den sich gegenseitig voneinander abhebenden Farben und Formen — könnten wir dieses Gemeinsame beschreiben?
Doch die Metaphysik ist - wie auch die Philosophie als Ganzes nicht etwas, wovon man einfach kuriert wird oder was man einfach aufgeben kann. Sie ist keine Krankheit des Geistes. In Wirklichkeit gehen die am stärksten gegen eine Metaphysik eingestellten Philosophen von einer stillschweigenden eigenen Metaphysik aus, die sich hinter der Behauptung versteckt, alle Erfahrung und alles Denken müßten sich auf der Grundlage von Klassen und den Gegensätzen bzw. den Vergleichen zwischen ihnen abspielen. Um es so einfach wie möglich auszudrücken: ich kann nur etwas Sinnvolles über etwas Weißes sagen, weil ich die Farbe Weiß im Gegensatz zur Farbe Schwarz und im Vergleich zu den Farben Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett kenne. Sinnvolle Feststellungen über Hunde und Katzen sind nur möglich, weil sie organisch im Gegensatz zu anorganisch und Säugetiere im Gegensatz zu Beuteltieren sind, und weil sie, auch wenn sie munter herumhüpfen, klar definierte Grenzen haben, die sie von der übrigen nicht hundehaften und nicht katzenhaften Welt trennen.
Doch die Grundannahme, daß alles Wissen nur auf der Basis von Gegensätzen möglich ist, ist so metaphysisch, wie eine solche Annahme nur sein kann. Formuliert man sie anders, nämlich: „Alles Wissen ist die Erkenntnis der wechselseitigen Beziehungen zwischen Sinneserfahrungen bzw. Dingen und Ereignissen“, kommt man einer sinnvollen Aussage über alles, nämlich: „Alle Dinge werden aufgrund ihrer Unterschiede und Ähnlichkeiten zueinander erkannt“, gefährlich nahe. Wird der Antimetaphysiker in diese Position gedrängt, dann kann man ihn - wenn auch mit lautem Protestgeschrei von seiner Seite
- auf eine noch tiefere metaphysische Ebene führen.
Die Aussage: „Alles ist Energie“ enthält zugestandenermaßen nicht mehr Informationen als die Aussage: „Alles ist alles“. Um Energie beschreiben zu können, muß ich sie von Nicht-Energie oder Masse unterscheiden können. Gehe ich dann davon aus, daß „alles“ auch Nicht-Energie - Masse, Raum oder was auch immer - mit einschließen soll, dann hat die Aussage: „Alles ist Energie“ nicht nur keinen Informationswert, sondern ist auch Unsinn. Bestehen wir dann weiter darauf, daß Energie nur im Gegensatz zu Nicht-Energie erkannt und beschrieben werden kann, dann ist das praktisch dasselbe, als würde ich sagen, Energie (oder Bewegung) manifestiere sich nur - oder, einfacher ausgedrückt, existiere nur - im Gegensatz zu etwas relativ trägem. In diesem Fall hängt aber die Energie im Hinblick auf ihren energetischen Charakter von diesem Trägen ab und umgekehrt das Träge im Hinblick auf seinen trägen Charakter vom Energetischen. Diese Relativität oder gegenseitige Abhängigkeit kommt aber einer metaphysischen Einheit als Grundlage für Unterschiede so nahe wir nur irgend möglich.
Manchmal habe ich gedacht, daß man alle philosophischen Dispute auf eine Auseinandersetzung zwischen „Klardenkern“; und „Traumtänzern“ zurückführen kann. Die „Klardenker“ sind hart, rigoros und präzise, sie heben am liebsten die Unterschiede und die Trennung zwischen den Dingen hervor. Sie ziehen Partikel Wellen und die Diskontuinität der Kontinuitität vor. Die „Traumtänzer“ sind zart besaitete Romantiker, die große Verallgemeinerungen und Synthesen lieben. Sie heben die zugrundeliegenden Einheiten hervor und neigen zu Pantheismus und Mystizismus. Als letzte Bestandteile der Materie kommen für sie eher Wellen als Partikel in Frage und bei dem Gedanken an Diskontinuitäten beißen sie unwillkürlich ihre Zähne zusammen. Für die „Klardenker“ sind die „Traumtänzer“ ziemlich widerwärtige Figuren - undisziplinierte und vage Träumer, die die harten Tatsachen mit einem geistvollen Nebel überziehen, der das ganze Universum in ein „undifferenziertes ästhetisches Kontinuum“ (diesen Begriff verdanke ich Professor F. S. C. Northrop) zu versinken lassen droht. Doch die „Traumtänzer“ halten ihre „klar denkenden“ Kollegen für beseelte Skelette, für fleisch- und blutlose Klappergestelle, für ungeölte und ausgeleierte Mechanismen, denen innere Gefühle vollkommen abgehen. Jede Seite wäre ohne die andere hoffnungslos verloren, denn es gäbe dann nichts mehr, worüber man streiten könnte, niemand würde mehr wissen, wo er steht, und die ganze Philosophie käme zu einem Stillstand.
So wie die Dinge in der Welt der akademischen Philosophie jetzt stehen, haben die „Klardenker“ in England und in den USA seit einiger Zeit die Oberhand. Mit ihrer Neigung zur linguistischen Analyse, zur mathematischen Logik und zum wissenschaftlichen Empirismus haben sie der Philosophie den Charakter einer Wissenschaft verliehen, die Bibliothek des Philosophen oder sein Refugium in den Bergen in etwas umzuwandeln begonnen, was mehr an ein Laboratorium erinnert, und würden sie - wie William Earle sagte - zur Arbeit in weißen Kitteln erscheinen, wenn sie meinten, damit den Vogel abzuschießen. Die Fachzeitschriften sind jetzt ebenso ungenießbar wie Abhandlungen über mathematische Physik, die Streitfragen so winzig wie ein Tierchen unter dem Mikroskop des Biologen. Durch den weitgehenden Sieg über die „Traumtänzer“ ist die Philosophie als Disziplin beinahe abgeschafft worden, denn wir sind nahe an den Punkt gerückt, wo die philosophischen Abteilungen schließen und die restlichen Mitglieder der Fakultät in die mathematische und die linguistische Abteilung abwandern.
Historisch gesehen ist das vermutlich der äußerste Schwingungspunkt des geistigen Pendels, durch das das vollautomatische Modell des Universums in Mode kam, stehen wir jetzt am Extrem des Zeitalters der Analyse und der Spezialisierung, in dem sich unsere Vision des Universums in der überwältigenden Komplexität seiner Einzelheiten verloren hat.*
Die akademische Philosophie verpaßte ihre einmalige Chance 1921, als Ludwig Wittgenstein zum ersten Mal seinen Tractatus Logico-Philosophicus veröffentlichte, der mit den folgenden Worten endete: "Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend - er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten - aber sie wäre die einzig streng richtige. Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigenc. (Tractatus logico-phüosophicus, Abschnitte 6.53, 6.54 und 7, Edition Suhrkamp, 1979, S. 115). Das war der entscheidende Augenblick, wo alle akademischen Philosophen hätten innehalten können und die philosophische Disziplin auf das Niveau der reinen Betrachtung nach der Art der Meditationspraktiken der Zen-Buddhisten hätten heben können. Aber sogar Wittgenstein fuhr weiter fort, zu sprechen und zu schreiben, denn welche Möglichkeit hätte ein Philosoph sonst, der Welt zu zeigen, daß er arbeitet und nicht müßig in den Tag hineinlebt?
Doch durch einen Prozeß, den C. G. Jung „Enantiodromia“ nannte, ist mit jeder extremen Position der Punkt erreicht, ab dem der Prozeß in die Gegenrichtung umzuschwenken beginnt, was öde und durch die ständige Wiederholung entnervend sein kann, wenn man nicht erkennt, daß gegenteilige Extreme polar sind und Jeder Pol für den anderen notwendig ist. Es gibt keine „Klardenker“ ohne „Traumtänzer“ und keine „Traumtänzer“ ohne „Klardenker“.
Um in der Philosophie woanders hinzugelangen und nicht nur vor- und zurückzugehen oder sich im Kreis zu bewegen, muß man ein ausgeprägtes Empfinden für die korrelative Betrachtungsweise haben. Dies ist ein terminus technicus für das grundlegende Verstehen des Schwarz/Weiß-Spiels, wonach man alle expliziten Gegensätze als implizit miteinander verbunden erkennt - korrelativ in dem Sinn, daß sie miteinander einhergehen und nicht getrennt voneinander existieren können. Dies - und nicht ein ständig fortschreitendes Auflösen von Unterschieden in einen Universalnebel - ist die metaphysische Einheit, die der Welt zugrundeliegt. Denn diese Einheit ist nicht nur Einheit im Gegensatz zu Vielfalt, da diese beiden Begriffe selber in polarem Verhältnis zueinander stehen. Diese Einheit oder Untrennbarkeit von einem und vielem wird deshalb in der Vedanta-Philosophie als „Nicht-Zweiheit“ (advaita) bezeichnet, um den Unterschied zu simpler Einförmigkeit hervorzuheben. Es stimmt zwar, daß dieser Begriff sein Gegenteil hat, nämlich „Zweiheit“, denn insofern jeder Begriff eine Klasse bezeichnet, ein geistiges Schubfach, hat jede Klasse auch ein Außen, das zu ihrem Inhalt einen Pol bildet. Aus diesem Grund kann die Sprache ebenso wenig über die Zweiheit hinausgehen wie Bilder oder Photographien auf einer flachen Oberfläche mehr als zwei Dimensionen haben können. Doch aufgrund der Konvention werden bestimmte zweidimensionale Linien, die auf einen „Fluchtpunkt“ hin zulaufen, als stellvertretend für die dritte Dimension der Tiefe aufgefaßt. Entsprechend begreift man den dualistischen Ausdruck „Nicht-Zweiheit“ als stellvertretend für die „Dimension“, in der explizite Unterschiede implizit eins sind.
Anfangs ist es nicht einfach, die korrelative Betrachtungsweise beizubehalten. In den Upanishaden wird sie als der Pfad auf der Kante einer Rasierklinge beschrieben, als ein Balanceakt auf der dünnsten aller Linien. Für die gewöhnliche Betrachtungsweise gibt es nichts „zwischen“ Klassen und Gegensätzen. Das Leben ist eine Reihe von dringenden Entscheidungen, die eine feste Verpflichtung gegenüber diesem oder jenem erfordern. Die Materie ist der Inbegriff alles Gegenständlichen und der Raum der Inbegriff alles Nicht-Gegenständlichen, des Nichts. Jede Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden scheint unvorstellbar, es sei denn, man nimmt unser eigenes Bewußtsein oder unseren Geist, und dieser gehört zweifellos auf die Seite der Materie - immerwährend bedroht vom Nichts. Doch wenn man seinen Standpunkt ein klein wenig verändert, erscheint nichts einleuchtender als die gegenseitige Abhängigkeit der Gegensätze. Aber wer kann das schon glauben?
Ist es wirklich möglich, daß mein Selbst, meine Existenz, Sein und Nichtsein gleichermaßen umfaßt, so daß der Tod lediglich das „Aus“-Intervall in einem Pulsieren von An/Aus aufzufassen ist, ein Pulsieren, das ewig sein muß, da jede Alternative zu diesem Pulsieren (beispielsweise seine Abwesenheit) zu seiner Zeit seine Gegenwart impliziert? Ist es demnach begreiflich, daß ich im Grunde eine ewige Existenz bin, die vorübergehend und vielleicht unnötig von der einen Hälfte von sich selber erschreckt wird, weil sie diese eine Hälfte mit ihrem Ganzen gleichsetzt? Wenn ich mich nur für Schwarz oder Weiß entscheiden kann, muß ich mich so der weißen Seite verpflichten, daß ich nicht beiden Seiten gerecht werden kann, indem ich das Spiel Schwarz-Weiß spiele, mit der stillschweigenden Erkenntnis, daß keine Seite gewinnen kann? Oder ist das Ganze nur eine Spielerei mit den formalen Beziehungen zwischen Worten und Begriffen, die zu meiner physischen Situation überhaupt keinen Bezug hat?
Um die letzte Frage positiv zu beantworten: ich sollte tatsächlich der Auffassung sein, daß die Logik des Denkens sehr willkürlich ist - daß sie eine rein menschliche Erfindung ohne jede Grundlage im physikalischen Universum ist. Es stimmt zwar, wie ich schon gezeigt habe, daß wir logische Muster (Netze, Gitter u. dgl.) auf die unübersichtliche physikalische Welt projizieren - was verwirrend sein kann, wenn wir uns dessen nicht bewußt sind -, doch diese logischen Muster kommen nicht von außerhalb dieser Welt. Sie haben etwas mit der Gestaltung des menschlichen Nervensystems zu tun, das zweifellos in dieser Welt und aus ihr hervorgegangen ist. Ich habe weiter gezeigt, daß die korrelative Betrachtungsweise im Hinblick auf die Beziehung zwischen Organismus und Umgebung weitaus besser mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften vereinbar ist als unsere archaische und vorherrschende Auffassung, das Selbst sei etwas, was einer fremden und von ihm getrennten Welt gegenüberstehe. Um die Verbindungen zwischen der menschlichen Logik und dem physikalischen Universum zu lösen, müßte ich auf den Mythos zurückkommen, daß das Ich einem isolierten und unabhängigen Beobachter entspricht, für den die übrige Welt außerhalb von ihm existiert und etwas absolut „anderes“ ist. Weder die Neurologie, noch die Biologie, noch die Soziologie könnten dem zustimmen.
Wenn andererseits das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, Organismus und Umgebung, Pole eines einzigen Dahinfließens sind, dann ist DAS meine wahre Existenz. So heißt es auch in den Upanishaden: „Das ist das Selbst. Das ist das Wirkliche. Das bist du!“ Aber ich kann nichts über DAS - oder wie ich es zukünftig nennen werde: ES - denken oder sagen, wenn ich nicht auf die Konvention der dualistischen Sprache zurückgreife, so wie Fluchtlinien benutzt werden, um auf einer flachen Oberfläche den Eindruck der Tiefe zu erwecken. Was jenseits der Gegensätze liegt, muß - wenn überhaupt - mit Hilfe von Gegensätzen artikuliert werden, und das heißt mit Hilfe der Sprache der Analogien, Metaphern und Mythen.
Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, daß die Sprache dualistisch ist, insofern als die Worte Zeichen für einander ausschließende Klassen sind. Das Problem betrifft den Umstand, daß ES so sehr meine bisherigen Vorstellungen von dem, was ich bin, übersteigt, so zentral und grundlegend für meine Existenz ist, daß ich ES nicht zum Objekt machen kann. Es gibt keine Möglichkeit, außerhalb von ES zu stehen, es ist in der Tat auch nicht notwendig, denn solange ich mich bemühe, ES zu begreifen, impliziere ich, daß ES in Wirklichkeit nicht mein Selbst ist. Wäre es möglich, dann würde ich den Sinn dafür verlieren, indem ich versuchen würde, ES zu finden. Aus diesem Grund sagt aber auch wirklich ein jeder, der wirklich weiß, daß er ES ist, daß er ES nicht versteht, denn ES versteht das Verstehen - nicht umgekehrt. Man kann nicht - und braucht auch nicht - tiefer als tief zu gehen!
Doch die Tatsache, daß sich ES jeder Beschreibung entzieht, darf nicht, wie es so häufig geschieht, mit der Beschreibung von ES verwechselt werden, wonach ES die luftigste aller Abstraktionen ist, ein buchstäblich transparentes Kontinuum oder ein gleichförmiges kosmisches gelatineartiges Gebilde. Die konkreteste Vorstellung von Gott als Vater mit weißem Bart und goldenem Gewand ist da immer noch besser. Doch westliche Studenten der östlichen Religionen und Philosophien beschuldigen Hindus und Buddhisten hartnäckig sie glaubten an einen gelatineartigen Gott ohne Merkmale, nur weil die Buddhisten betonen, daß jeder Begriff oder jede objektive Vorstellung von ES leer ist. Doch der Begriff „leer“ bezieht sich auf alle solche Begriffe, nicht auf ES.
Wer jedoch über ES sprechen und über ES nachdenken will, hat keine andere Alternative, als Bilder und Begriffe zu verwenden. Das ist so lange nichts Unrechtes, als wir uns dessen bewußt sind, was wir tun. Die Bilderverehrung ist nicht die Benutzung von Bilder, sondern ihre Verwechslung mit dem, für was sie stehen. In diesem Sinne können deshalb geistige Vorstellungen und Abstraktionen heimtückischer sein als Götzenbilder aus Bronze.
Wahrscheinlich sind Sie, der Leser, in einer Kultur großgezogen worden, in der seit Jahrhunderten die dominierende Vorstellung von ES ein Gottvater ist, zu dem das persönliche Fürwort Er gehört, weil Es zu unpersönlich erscheint und Sie natürlich minderwertiger wäre. Ist diese Vorstellung noch brauchbar, und zwar als funktionaler Mythos, um zu einer Übereinkunft über das Leben und seine Bedeutung für alle die verschiedenen Völker und Kulturen zu gelangen?
Offen gesagt, ist diese Vorstellung von Gott als Vater lächerlich geworden - es sei denn, man liest Thomas von Aquin, Martin Buber oder Paul Tillich und ist sich dessen bewußt, daß man ein frommer Jude oder Christ sein kann, ohne an den himmlischen Vater zu glauben. Aber auch dann ist es noch schwierig, sich der Gewalt dieser Vorstellung zu entziehen, denn Vorstellungen beherrschen unsere Gefühle stärker als Begriffe. Als frommer Christ betet man beispielsweise Tag für Tag: „Vater unser, der du bist im Himmel“, und schließlich ist man soweit: man hat zu ES eine emotionale Beziehung wie zu einem idealisierten Vater entwickelt - männlich, liebevoll, aber auch streng, und ein persönliches Wesen, das ganz anders als man selber ist. Offensichtlich muß man ganz anders als Gott sein, solange man sich selbst als das isolierte Ich begreift, doch wenn wir erkennen, daß diese Form der Identität lediglich eine soziale Einrichtung ist, noch dazu eine, die als Lebensspiel nicht mehr brauchbar ist, dann ist die scharfe Trennung zwischen dem eigenen Selbst und der letzten Wahrheit nicht mehr relevant. Die jüngeren Mitglieder unserer Gesellschaft befinden sich außerdem schon seit einiger Zeit in einer immer stärker werdenden Auflehnung gegen die väterliche Autorität und gegen Vater Staat. Das Zuhause in einer industriellen Gesellschaft ist hauptsächlich eine Schlafstätte, der Vater arbeitet nicht dort, was zu dem Ergebnis führt, daß Frau und Kinder an seinem Beruf nicht teilhaben. Er ist lediglich eine Figur, die Geld nach Hause bringt, und nach der Arbeitszeit soll er seinen Job vergessen und Spaß haben. In Geschichten, Zeitschriften, im Fernsehen und in populären Witzzeichnungen wird „Papi“ deshalb als unfähiger Clown dargestellt, und dieses Bild hat etwas für sich, denn Papi ist darauf hereingefallen, daß die Arbeit einfach etwas ist, womit man Geld macht, und daß man mit Geld alles kriegen kann, was man will.
Kein Wunder, daß immer mehr Universitätsstudenten in Papis Welt nicht mehr mitspielen wollen und alles tun, um nicht in den sinnlosen Wettkampf eines Verkäufers, Pendlers, Beamten oder Geschäftsführers miteinbezogen zu werden. Auch mitten im Beruf stehende Leute-Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte, Minister und Professoren - haben nicht zu Hause gelegene Büros, und kommen dadurch, daß sich die Forderungen der Familie immer mehr auf das Finanzielle beschränken, in immer stärkere Versuchung, sogar ihren Urlaub als Möglichkeit zum Geldverdienen anzusehen. All das wird noch durch die Tatsache verschlimmert, daß Eltern nicht mehr ihre eigenen Kinder erziehen. Das Kind wächst also nicht mit einem Verständnis oder einer Begeisterung für die Arbeit seines Vaters auf. Statt dessen wird es zu einer personell unterbelegten Schule geschickt, die größtenteils von Frauen geleitet wird, die unter diesen Umständen nicht mehr als eine Massenerziehung bieten können, durch die das Kind auf alles und nichts vorbereitet wird. Es hat aber überhaupt keine Beziehung zum Beruf seines Vaters.
Gleichzeitig mit dieser Abwertung des Vaters gewöhnen wir uns an eine so rätselhafte und eindrucksvolle Konzeption des Universums, daß selbst die überragendste Vaterfigur für eine Erklärung dessen, was das Universum am Laufen hält, nicht mehr ausreicht. Das Problem besteht aber dann darin, daß wir uns absolut kein Bild machen können, das das Menschenbild übertrifft. Wenige von uns haben jemals einen Engel getroffen und würden deshalb auch keinen erkennen, wenn sie ihm begegneten. Unsere Vorstellungen von einem unpersönlichen oder überpersönlichen Gott sind hoffnungslos subhuman - eine gallertartige Masse, diffuses Licht, homogenisierter Raum oder ein gewaltiger elektrischer Strom. Unsere Vorstellung vom Menschen ändert sich aber, je klarer es wird, daß ein menschliches Wesen mehr ist als lediglich sein physischer Organismus. Ende Teil 1