Meine These: Ja! Jeder, wirklich jeder, hat seine Religion,
die ihm sagt, was der Sinn des Lebens und alles übrigen ist,
sogar Atheisten: Bei denen spielt eben die Wissenschaft die
Rolle, die für andere ihr Gott, Jahwe, Allah, Brahma
oderwasweissichnochalles spielt.Wenn du natürlich so eine Wischiwaschi-Definition von Religion
zu Grunde legst, bei der jede Weltanschauung, jede
Überzeugung, ja jede Meinung zur Religion erklärt wird, dann
sind natürlich alle Leute religiös.
Hallo Fritz,
anstelle dieser „Wischiwaschi-Definition“ möchte ich Dir hier eine andere Definition anbieten - auf die Gefahr hin, dass Du sie zu einer Art ‚höherem Wischiwaschi‘ erklärst . Damit müssten wir dann wohl leben.
"Erstens: Religion ist stets etwas, das jeden Einzelnen persönlich angeht. Darin ist sie anders als die Kultur. Kultur betrifft zwar jeden einzelnen, aber nicht jeder einzelne muß sie auch zu seinem persönlichen Anliegen magen. Was Religion ist, läßt sich demnach nicht von außen verstehen. Das heißt: Allein das religiöse Bedürfnis ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Religion ist. Einen anderen Weg gibt es nicht. Hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der Religion ist dies der wichtigste Punkt. Zweitens: Wenn vom Wesen der Religion die Rede ist, so befindet sich die Frage: „Welchen Zweck hat Religion für uns?“ bereits als Frage im Irrtum. Aus ihr spricht eine Haltung, welche Religion ohne religiöses Bedürfnis zu verstehen sucht. Diese Frage wird daher von einer anderen Frage durchbrochen, die aus dem Fragenden selbst kommen muß. Einen anderen richtigen Weg zum Verständnis dessen, was Religion ist oder welchem Zweck sie dient, gibt es nicht. Die Frage, welche die erste Frage durchbricht, ist die Gegenfrage: „Wozu existieren wir?“ Hinsichtlich alles anderen können wir fragen, welchen Sinn seine Existenz für uns habe. An die Religion lässt sich diese Frage jedoch nicht richten. In Hinblick auf alle anderen Dinge können wir uns selbst (oder die Menschheit) zum telos ihrer Beziehung zu uns machen und demgemäß ihren Wert für unser Leben und unsere Existenz bestimmen. Wir können uns (oder die Menschheit) zum Mittelpunkt machen und uns ausrechnen, welche Bedeutung ihnen als Inhalte in unserem Leben (oder im Leben der Menschheit) zukommt. Wenn diese Daseins- und Denkweise, in der wir uns zum telos _aller anderen Dinge machen, erschüttert wird und die dieser Haltung entgegengesetzte Frage auftaucht: „Wozu existieren wir selbst denn?“, dann tut sich erst der eigentliche Ort auf, von dem aus Religion in Sicht kommt."
Keiji Nishitani, Was ist Religion?_
Vielleicht ist es hilfreich, in dieser Diskussion von den allgemein gängigen, allzu oft sehr einfachen oder auch einfältigen Antworten auf diese von Nishitani genannte Frage einmal abzusehen und sich stattdessen auf die Frage selbst zu konzentrieren. Sicher sind da die unterschiedlichsten Antworten denkbar und im Laufe der Geschichte auch gegeben worden. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es Kennzeichen des wahrhaft religiösen Menschen ist, auf diese Frage seine ganz persönliche Antwort zu suchen und zu finden. Ich nenne dies - mit Nishitani - ‚Religion‘. Ob das nun - wie in diesem Thread gefragt - jeder wirklich braucht … ja nun, darüber maße ich mir kein Urteil an.
Dabei ist mir durchaus klar, dass das ein relativ weites Verständnis von Religion ist. Vor allem aber ist es ein substanzielles Verständnis, das sich mit rein funktionalen Definitionen wie z.B. der Emile Durkheims nicht deckt:
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und
Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man
Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. […] wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“
Die ‚funktionalen‘ Antworten könnte man dann bei anderer Gelegenheit mit der Frage „Brauchen Menschen diese Religion?“ Fall für Fall erörtern. Man könnte - ich selbst möchte eine solche Diskussion allerdings nicht führen, ich halte sie für sinnlos.
Freundliche Grüße,
Ralf