Hallo Stucki
Nüchterner betrachten es die
Evolutionsforscher: „Religion bindet einen Stamm, ein Volk
zusammen und garantiert ihm damit besseres Bestehen in einer
widrigen Welt.“ Darin liegt aber auch Abgrenzung gegenüber
Nachbarstämmen/-völkern, die (u.U. nur etwas) andersgläubig
sind.
Das ist eine rein funktionale Sichtweise, wie ich sie schon mit dem Durkheim-Zitat angesprochen hatte. Natürlich ist eine solche Sichtweise nicht nur legitim, es ist sogar die einzig mögliche, wenn man Religion als soziales Phänomen betrachten will. Damit - und das ist der Nachteil der funktionalen Betrachtungsweise - trifft man aber über den Gegenstand der Betrachtung lediglich indirekte Aussagen. Man beschreibt also im hier vorliegenden Falle die soziale Funktion von Religion - wobei offen bleiben muss, ob diese Beschreibung erschöpfend ist; ob sie die Funktion von Religion vollständig erfasst. Selbst wenn dies der Fall wäre, wird damit darüber, was Religion substanziell ist, nichts ausgesagt. Es wird beschrieben, wie Religion im gesellschaftlichen Zusammenhang funktioniert, nicht, was Religion eigentlich ist.
Das hat mit ‚Nüchternheit‘ absolut nichts zu tun. Nishitanis Ansatz ist einfach ein anderer. Wie in meinem ersten Posting schon gesagt, ein substanzieller und kein funktionaler.
Wenn man nun argumentiert, das Wesen der Religion erschöpfe sich in seiner Funktion, so halte ich das persönlich für gar nicht einmal so falsch. Schief wird es allerdings meines Erachtens, wenn man diese Aussage noch weiter auf eine ‚soziale Funktion‘ einschränken will. Soziale Funktionen sind immer etwas Abstraktes. Tatsächlich handeln und fungieren immer konkrete Individuen aus konkreten Antrieben heraus. Die soziale Gestalt, die das konkrete Denken und Handeln von Individuen, die ein gemeinsames soziales Bezugssystem haben, annimmt, ist immer ein abstraktes Konstrukt.
Die Folgen können wir in der Menschheitsgeschicht sehen.
Ich meine damit nicht, dass die Religionen dafür
verantwortlich sind!
Genau dies ist der Punkt. Konkret als Handelnde und damit Verantwortliche treten immer auch konkrete Individuen auf. Die Verantwortung (ggf. ‚Schuld‘) der Gesellschaft, der Religion oder der Ideologie zuzuschieben oder sonstige transzendente Mächte zu bemühen (was ja zweifellos immer wieder geschieht), ist nichts als fadenscheinige Exkulpation.
Kehren wir zurück zu Nishitanis substanziellem Ansatz: Religion als persönliche Antwort auf die Sinnfrage, die Frage nach der eigenen Bestimmung. Offensichtlich kann diese Frage die unterschiedlichsten Antworten finden - selbst Antworten, die lediglich im Handeln ausgedrückt werden und keines gedanklichen Überbaus, keiner konsistenten Theo- oder Ideologie bedürfen. In der Regel allerdings ist es so, dass die meisten Menschen ein tradiertes Muster (die ‚funktionale Religion‘) übernehmen und diesem ihren eigenen Sinn geben. Dass dabei bestimmte Muster einer speziellen Sinngebung eher entsprechen können als andere, ist offensichtlich. Trotzdem lassen die traditionellen religiösen Überlieferungen mit ihrem Vorrat an vieldeutigen Zeichen der persönlichen Sinngebung weiten Raum. Nicht umsonst spielen Symbole, Gleichnisse, Parabeln etc. da eine große Rolle. Nicht immer, um das eigentlich Unsagbare auszudrücken, sondern eben auch, um einem großen Spektrum von Sagbarem Raum zu lassen.
Aber sie haben auch nicht im Geringsten
mäßigend auf die Bestie Mensch eingewirkt! „Gott mit uns!“,
„Gott will es!“ usw. bis zum heiligen Krieg - natürlich alles
Missbrauch.
Dies scheint mir eine unzulässige Verallgemeinerung zu sein. Die von Dir eingangs beschriebene soziale Funktion von Religion als sozialer Identifikationsgegenstand, als ‚Totempfahl‘, um den sich die Horde schart, kann allerdings diesen Eindruck erwecken. Neben der bereits genannten Definition und Ausgrenzung des ‚Fremden‘ und zu Bekämpfenden kann darüber hinaus - wie ich schon angedeutet hatte - die soziale Funktion sogar in der Exkulpation des Einzelnen innerhalb und vor der Gemeinschaft bestehen; kann sie Rechtfertigung von Bürgerkrieg und Brudermord oder auch ‚nur‘ von sozialer Unterdrückung sein. Wir haben also nicht nur Bernards ‚Deus lo volt!‘ sondern auch Almarics ‚Dieu reconnaitra les siens‘.
Man darf nicht von der stillschweigenden Voraussetzung ausgehen, dass die Antwort des Einzelnen auf die Sinnfrage allemal eine ethisch hochstehende oder nach gängigen Maßstäben auch nur ethisch akzeptable Antwort sein müsse. Dies wäre wirklich allzu blauäugig. Dies hieße z.B., die religiösen Aspekte der faschistischen Herrenmenschenideologie zu übersehen oder die messianische Verehrung von Menschheitsbeglückern wie Stalin.
Trotzdem gibt es - von dem kaum quantifizierbaren ‚mäßigenden‘ Einfluss auf einzelne Menschen abgesehen - durchaus beachtenswerte Indizien für eine ‚humanisierende‘ Auswirkung religiöser Modelle auf ganze Gesellschaften. Stellvertretend möchte ich hier die tibetischen und mongolischen Völker nennen, deren Wandlung von kriegerischen und räuberischen Horden hin zu einer etwas ‚zivilisierteren‘ Kultur auffällig mit der Verbreitung des Buddhismus unter ihnen koinzidiert.
Heute im Zeitalter der Globalisierung habe ich den Eindruck,
dass Religionen eher etwas Trennendes sind - bei aller
Anerkennung des Bemühens auch der Kirchen um Verständigung.
Ich denke nicht, dass das Trennende gewachsen ist - und auch nicht, dass es anachronistisch ist. Es ist durch den interreligiösen Dialog lediglich deutlicher geworden. Dies gilt gleichzeitig aber auch für das Verbindende. Daraus erst ergibt sich die Chance, religiöse Vielfalt zuzulassen - die Chance, dass die im Entstehen begriffene Weltkultur wenigstens von der Pest militanter religiöser Intoleranz verschont bleibt. Die Aussichten dafür sind nicht allzu gut - die Entwicklung des religiösen Dialogs vermag mit der Entwicklung der Globalisierung offenbar kaum Schritt zu halten. Man kann darüber jammern oder aber den Versuch machen, Versäumtes aufzuholen.
Freundliche Grüße,
Ralf
P.S.: Ich bin ab morgen früh bis einschließlich Sonntag vom Web abgenabelt. Auf Antworten kann ich also frühestens Montag eingehen.