Empfehlung nach der Grundschule

Mein Plädoyer
Hallo Christian,

ich danke dir sehr herzlich für deinen Beitrag und deine offene Stellungsnahme.

Ich selber stamme aus einem bildungsfernen Haushalt. Meine Mutter ist eine Immigrantin und hat als alleinerziehende Mutter zwei Söhne aufgezogen. Ihr Schulbildung betrug drei Jahre. Sie kann lesen, schreiben und Grundrechenarten.
Zu Hause sprachen wir eine Mischung aus Spanisch und Deutsch.

Ich war das, was man ein hochbegabtes Kind nannte. Ich bekam keinerlei Förderung, außer der, die ich mir in Bibiliotheken selber holte.
Für die Nachhilfe in Deutsch reichte das Geld nicht auf Dauer.
Meine Noten lagen im Schnitt im mittelguten Bereich. Sprachen (Deutsch, Englich, Latein, Französich) waren mäßig bis schlecht, andere Fächer gut aber nicht überragend)

Als meine Mutter mir mitteilte, dass ich nicht auf das Gymnasium komme, sondern auf die Gesamtschule (eine Bekannte hatte ihr dazu geraten), habe ich den ganzen Nachmittag geheult.
Was ihr die Lehrerin geraten hat, weiss ich bis heute nicht.

Ich habe mein Abitur gemacht. Ich habe studiert.
Ob ich die Kraft gehabt hätte, mein Abitur und mein Studium im zweiten Bildungsweg durchzuziehen, weiss ich nicht.
Auf einer Hauptschule wäre ich an der Gewalt und Repression zerbrochen.

Und ich weiß auch, dass Kinder ohne aktive Hilfe
ihrer Eltern es sehr sehr schwer haben! Weißt du, wie es in
manchen Familien aussieht? Dass Kinder kein Tisch, kein Platz,
keine Ruhe zu arbeiten haben, dass Eltern nicht verstehen, was
ihre Kinder brauchen, wichtige Entscheidungen nicht mit den
Kindern besprechen und sie in keinster Weise emotional stützen
können? Auch ich empfinde das als sehr ungerecht. Solange aber
die Gesellschaft in Deutschland (also wir alle) die
Verhältnisse nicht ändert, muss ich bestimmten Kindern die
Gymnasialempfehlung verweigern, da ich vorhersehe, dass sie
trotz ihrer Intelligenz keine Chance auf dem Gymnasium haben
werden! Sonst würde ich sie ja sehenden Auges „ins Messer
laufen lassen“!

Was für ein offenes Messer soll das sein? Das die Kinder nicht mithalten, sitzenbleiben oder auf die Realschule runtergestuft werden?
Ist es etwa für ein intelligentes Kind leichter in der Hauptschule zu sitzen? Ist dir eigentlich klar, dass du mit einer solchen Enscheidung einen Menschen, der eine akademische Laufbahn eingeschlagen hätte, zu der Stellung eines Hilfsarbeiters verurteilen kannst?

Was ich fordere,
was ich von ganzem Herze wünsche,
ist für solche Kinder das Recht und die Chance sich bewähren oder versagen zu dürfen.
Kein ruhiger Arbeitsplatz zu Hause? Dann soll das Kind sich irgendwo, sei es in der Schule oder bei Freunden oder an einem öffentlichen Ort einen Platz zu suchen.
Die Eltern unterstützen die Kinder nicht emotional? Dann muss sich das Kind allein durchschlegen und Menschen suchen, die ihm Rat und Beistand geben.

Die Generation, die diese Land aufgebaut hat, ist in Trümmern aufgewachsen. Für sie hattten die Eltern keine Zeit und es gab keine Förderung. Dennoch brachte sie exzellente Ingenieure, Wissenschafteler und Führungskräfte hervor. Auch unter widrigen Umständen können aus Kindern großartige Persönlichkeiten hervorgehen.

Wenn du nun diesen Text liest, hast du den Eindruck, dass er von einem dumben Kanacken stammt?
Aber vielleicht ist ein Kind in deiner Klasse, mit einer ähnlichen Ausgangslage, wie bei mir, mit ähnlichen Wünschen und ähnlichen Ehrgeiz. Und diese Kind wird von DIR in eine Laufbahn der schlechtesten Bildungsmöglichkeiten geschoben, aus der es aus eigener Kraft nicht mehr heraus kommt.

Bitte lass dir mein Plädoyer zu Herzen gehen. Und wenn nur ein einziges Kind deswegen schließlich die Chance zu einem Studium ergreifen kann, dann kann ich beruhigt schlafen.

Hier in Hamburg ist allerdings die Empfehlung nicht bindend
(was ich gut finde). Wenn also Kind und/ oder Eltern es
dennoch versuchen wollen, können sie es trotzdem tun!

DOCH! Deine Empfehlung ist bindend! Die bildungsfernen Eltern hören auf dich und wer hört schon auf die Wünsche eines zehnjährigen Kindes.

Ganz liebe Grüße
Carlos

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