Meine Fragen an die Experten: 1) Welcher Philosoph hat hat zuerst den Begriff Wissenschaft verwendet? 2) Muss Philosophie in jedem Falle unbedingt Wissenschaft sein, was ist z. B. mit praktischer Lebenskunst oder der realen tagtaeglichen Kultur, die ja immer jeden Tag sehr viel mehr ist als nur Wissenshaft? 3) Was ist mit Nietzsche, der sehr kritisch und skeptisch war gegen die Wissenschaft (z. B. in einer ständigen Polemik gegen Sokates) der naiv gläubigen Masse, obwohl er ja selbst als jüngster Prof an der Universität Basel ein anerkannter Wissenschaftler war? Danke für Antworten!
Die Frage ist nicht ganz verständlich. Meinst du „Philosoph“ im Unterschied zu anderen Berufen, die ebenfalls den Begriff Wissenschaft verwenden?
Bereits Thales (654-548 v. Chr.) spricht von → beweisbarem Wissen. Allerdings waren zu seiner Zeit Verfahren des Beweisens und Widerlegens noch nicht präzisiert. Das wurde erst von Aristoteles geleistet.
Aristoteles (Metaphysik, Buch I, Kap. 1, bzw. 981 a1 - 982 a3) unterscheidet als erster präziser empirisches Wissen (εμπειρια, empeiria, Erfahrung, Empirie) von verstehendem Wissen (επιστημη, epistēmē, Verstehen, Wissenschaft). Die Empeiria weiß von den Gegenständen bzw. Vorgängen. Die Episteme weiß von den (bzw, sucht nach den) Gründen (αρχαι) und Ursachen (αιτιαι). Oder kürzer gesagt: Die Empeiria weiß, wie es geht, die Episteme weiß, warum.
Bei der zweiten Frage geht es, genauer gesagt, lediglich um den Wortgebrauch „Philosophie“. Dieser Ártikel → hier steht zwar schon seit 19 Jahren im Forum, mag aber dennoch deiner Frage entgegenkommen.
Gruß
Metapher
Vielen Dank für deine Antwort. Ich hatte Platon in Erinnerung noch vor Aristoteles, mit (angeblichem) Sokrates-Zitat: "Es gibt für den Menschen nur ein einziges Gut, die Wissenschaft und nur ein einziges Übel, die Unwissenheit." Leider gehst du auf den Begriff der kritischen Wissenschaft, z. B. von Nietzsche oder anderen, nicht ein. Kritik an Platon gab es ja schon in der Antike, dann vor allem von Descartes, Kant und vor allem auch Popper mit seinem Kritischen Rationalismus und der Erkenntnis, dass man Metaphysik nicht widerlegen (falsifizieren) könne, Wissenschaft dagegen jederzeit, was sie von metaphysischen Grundannahmen unterscheidet, was z. B. in der Corona-Pandemie zutagetrat, durch unterschiedliche Wissenschaftler. z. B. Street: „Wir haben viel zu sehr an die Virologen geglaubt,.“ Auch die Politik. Und noch ein Hinweis zum Wiener Kreis mit seiner radikalen Ablehnung der Metaphysik: Wer von „der“ Wissenschaft spricht, wie z. B. Carnap, die es so wenig gibt, wie „die“ Politik, erhebt ja ebenfalls einen Anspruch auf Metaphysik als Grundlage wissenschaftlicher Aussagen. Aber das war Carnap als dem führenden Kopf im Wiener Kreis anscheinend gar nicht bewusst.
Nochmal vielen Dank!
Nun ja, mit angeblichen (!) Sokrates-Zitaten, die im Internet kursieren und sich dort ohne Sinn und Verstand vervielfältigen (ebenso wie angebliche Zitate von Einstein, Goethe, Konfuzius usw.) ist das so eine Sache. Insbesondere, weil sie nie mit Quellenverweisen (die es meist natürlich auch gar nicht gibt) daherflattern.
Du fragtest nach dem Begriff „Wissenschaft“, woraus ich entnahm, daß du einen systematisch-methodischen Begriff meintest. Diesen gibt es aber erst, wie ich geschrieben habe, bei (und durch) Aristoteles: Ebendort insbesondere in den Schriften, die als „Organon“ zusammengefasst werden, außerdem in der „Physikvorlesung“ und auch in den Metaphysik-Büchern (τὰ μετὰ τὰ φυσικά).
Dein verschwurbeltes angebliches Sokrates-Zitat geht mutmaßlich zurück auf den Platon-Dialog „Menon“. Dort findet sich (Μένων 97a-97b):
ἔστιν ὅτι τὸ ἐπιστήμη ἀγαθὸν, ἡ δὲ ἀμαθία κακὸν.
„Es ist das Wissen ein Gut, die Unwissenheit aber ein Übel“
Und diese ἐπιστήμη (epistēmē) ist bei Platon (wie überhaupt im klassischen Griechisch) ganz allgemein „Wissen, Erkenntnis, Verstehen“. Beim platonischen Sokrates oft insbesondere bezogen auf ethische Kontexte. Es ist also höchst irreführend, den Begriff bei Platon mit „Wissenschaft“ zu übersetzen. Schleiermacher zum Beispiel übersetzt oft „Wissenschaft“, wo im Platon „philosophia“ steht. Auch in Platons sokratischer „Apologie“, wo es (ebenso wie z.B. im „Gorgias“) sogar grundlegend um ἐπιστήμη geht, ist von Wissenschaft im aristiotelischen (und erst recht im neuzeitlichen) wissenschaftstheoretischen Sinne bei weitem noch nicht die Rede.
Zu deiner zweiten Frage nach dem Wortgebrauch „Philosophie“ hab ich dir einen umfangreichen Artikel von mir gepostet. Und aus deiner dritten Frage mit dem saloppen
war nicht zu entnehmen, daß du in Wirklichkeit eine mindestens 1-semestrige Einführungs- Abhandlung über „Metaphysik“ bzw. „Metaphysikkritik“ seit Kant oder eine Abhandlung über die „Wissenschaftstheorie“ des XX. Jhdts (Popper, Carnap, Lakatos, Feyerabend, Duhem, Kuhn usw.) haben wolltest (die btw. mit Nietzsche nicht das Geringste zu tun hat)
Richtig, Falsifizierbakeit, d.h. Kriterien für eine Falsifiierung, ist längst (seit Mitte 19. Jhdt.) eine Basisanforderung an naturwissenschaftliche Theoriebildungen. Dennoch ist in der modernen Elementarteilchentheorie und der physikalischen Kosmologie jede Menge „Metaphysik“ enthalten. Zumindest in einem weitlöufigen Sinne, was allerdings mit klassischer, also scholastischer und nach-scholastrischer Metaphysik (als philosophische Disziplin) nicht viel gemein hat.
Gruß
Metapher
Sorry, auch dies ist kein wörtliches Platon-Sokrates-Zitat! Ein Erinnerungsfehler: Ich hatte es vor langer Zeit einmal in einem eigenen Seminar, das ich über den „Menon“ veranstaltete, als Zusammenfassung verwendet.
Es gibt überhaupt keine wortwörtliche Quelle für diese kompakte (oder ähnlich formulierte) Aussage im Platon, auch wenn manche Gedankengänge (in Apologie, Gorgias, Menon), dem nahekommen.
Die exakte Quelle für das Zitat findet sich derweil bei Diogenes Laertios: „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“. Dort im Buch II Kapitel über Sokrates:
„ἔλεγε δὲ καὶ ἓν μόνον ἀγαθὸν εἶναι, τὴν ἐπιστήμην, καὶ ἓν μόνον κακόν, τὴν ἀμαθίαν“
„Er sagte auch, es gebe nur ein einziges Gut, das Wissen, und ein einziges Übel, die Unwissenheit.“
Wie bei vielen Informationen, die D. L. über die Philosophen und deren Äußerungen gibt, lässt sich deren Herkunft nicht mehr ermitteln. Vieles, was ihm mutmaßlich noch vorlag, ist danach verloren gegangen.
Vielen Dank für deine Erkenntnisse, das ist ja sehr umfangreich und kompetent. Deinen verlinkten Artikel über das, was Philosophie allgemein und zusammengefasst beinhaltet, habe ich gelesen und fand ihn sehr beeindruckend und super geschrieben, in einer Alltagssprache, in sogar ich als „Normalo“ verstehen konnte, vor allem auch die Unterscheidung der Erkenntnis von Empire und Verstehen.
Was Kuhn anbetrifft, habe ich noch ein Problem, an dem ich seit längerem herumkaue. Stimmt es, dass die Wissenschaft, insbesondere Nawi, sich stets dem vorherrschenden Paradigma anpasst und das gegen Infragestellungen grundlegender Art verteidigt, solange es möglich ist? Und erst, wenn das vorherrschende Paradigma zu viele Widersprüche aufweist, sich die Wissenschaft wieder einem neuen Paradigma anpasst? Das wäre ja das genaue Gegenteil von Poppers idealer Wissenschaftsmethode des Falzifizierens?
Wahrscheinlich geschieht in der praktischen Arbeit von Wissenschaftlern beides. Denn in Wirklichkeit wird eben nicht jede „irrtümliche“ wissenschaftliche Aussage falsifiziert, diesen Aufwand kann die Wissenschaft gar nicht leisten, denke ich mal.
Und dass „immer“ metaphysische Grundlagen „vorausgesetzt“ werden, ohne dass die große Mehrheit von Einzelwissenschaftlern dies bewusst reflektiert, hat mal einer der führenden deutschen Hirnforschern, Gerhard Roth, seiner eigenen wissenschaftlichen Zunft unterstellt.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hat Roth zusätzlich zu seinem Biologie- und Medizinstudium so viel ich weiß auch Philosophie studiert, so dass ich der Behauptung von Roth, die meisten seiner empirisch forschenden Kollegen wären sich über die zugrundegelegten metaphysischen Voraussetzungen nicht im Klaren, glaube.
Ich glaube auch, die Einzelwissenschaften tun das deshalb meist gar nicht, weil sie die Zusammenhänge erstens nicht wissen (es ist nicht ihr Bildungsbereich) und zweites es auch gar nicht ihr Job ist, darüber nachzudenken.
Deshalb hatte ich die Philosophie dafür umso kompetenter aufgrund ihrer 2500-jaehrigen Tradition, dies zu tun. Ich denke, das ist ihre Kernkompetenz, wobei auch die amerikanische Philosophie, die ja annimmt, etwas ganz Neues in die Philosophie hineingebracht zu haben, im Gegensatz zur gesamten „Kontinentalphilosophie“ des alten Europas, selbstverständlich auch dazugehört.
Ich will nur ein Buch von Wilfried Selars erwähnen: „Der Mythos des Gegebenen“. Selars kritisiert hier, sofern ich es richtig begriffen habe, die Wissenschaft, insbesondere die Philosophie
des englischen Empirismus von Francis Bacon usw. Und sofern ich Richard Rorty richtig verstanden habe, lehnt er diese Kritik von Selars in seiner Radikalität und Generalisierung ab, weil dann nämlich nur alles „Sprachspiele“ (Wittgenstein) wäre, und gar keine vom Menschen unabhängige Außenwelt existiere.
Dass es diese aber tatsächlich gibt, davon bin ich überzeugt und davon scheint auch Rorty überzeugt, obwohl er genau derjenige war, der den Begriff „linguistic turn“ popularisierte.
Sein letztes Buch „Philosophie als Kulturpolitik“ wäre aus meiner Sicht das, was schon Sokrates wollte, soweit ich das beurteilen kann, als Begründer der „Politischen Philosophie“ im Gegensatz zu den „Vorsokratikern“. Schöne Grüße.
Ich meinte natürlich den US-Philosophen Wilfrid Sellars, sorry für meine falsche Schreibe und mein schlechtes Gedächtnis, ohne zuvor zu recherchieren!