Gesprochene Sprache und Deutsche Hochsprache

F. Genormte Lautung

Die deutsche Sprache wird nicht völlig einheitlich ausgesprochen; es gibt eine .ganze Reihe landschaftlicher und durch die soziale Schichtung bedingter Unterschiede in der Aussprache. Wiederholt hat man versucht, die Aussprache zu normen, ähnlich wie man die Rechtschreibung genormt hat. Es zeigt sich jedoch, daß es leichter ist, eine bestimmte Schreibung festzulegen als eine bestimmte Aussprache. Schreibung läßt sich auf dem Papier jederzeit und dauernd sichtbar festhalten. Das Gesprochene läßt sich weniger leicht festhalten. Um es zu beschreiben, braucht man u. a. eine genaue Lautschrift, die der normale Leser nicht ohne weiteres lesen oder gar nachsprechen kann. Während die Schreibnorm als amtliche Rechtschreiberegelung durchgesetzt werden konnte, ist es bisher nicht gelungen, eine Aussprachenorm, eine verbindlich festgelegte Lautung mit demselben Erfolg durchzusetzen.

Die älteste bekannte, 1898 geschaffene genormte Lautung ist die sogenannte „Bühnenaussprache“ von Theodor Siebs, die in erster Linie eine einheitliche Aussprache auf der Bühne ermölglichen sollte, dann aber eine viel weiter gehende Geltung erlangte. Sie ist mehrmals überarbeitet worden. Die 13. Auflage erschien 1922 unter dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache - Hochsprache“. 1957 kam die 16. Auflage unter dem Titel „Siebs Deutsche Hochsprache“ mit dem Untertitel „Bühnenaussprache“ heraus. Seit 1969 liegt die 19. Auflage in unter dem Titel „Siebs - Deutsche Aussprache“ mit dem Untertitel „Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch“ vor. Die Bühnenaussprache ist in den letzten Jahrzehnten durch eine neue Norm abgelöst worden, die als Standardaussprache oder als Standardlautung bezeichnet wird.

I. Standardlautung

Die Aussprache der deutschen Schriftsprache hat sich im 20. Jahrhundert, besonders seit den 50er Jahren, in einigen Fällen geändert, nicht zuletzt deshalb, weil das (klassische) Theater seine Rolle als Träger einer Einheitsaussprache weitgehend an Rundfunk und Fernsehen abgeben mußte. Dieser Entwicklung hat zuerst das " Wörterbuch der Deutschen Aussprache" (1964) und im Anschluß daran das „Duden-Aussprachewörterbuch“ (2 1974) Rechnung getragen, in dem die neue Einheitsaussprache, die vor allem die Aussprache geschulter Rundfunksprecher wiedergibt, unter der Bezeichnung „Standardaussprache“ (Standardlautung) beschrieben wird.

Die wesentlichen Züge dieser Standardlautung sind folgende:

  1. Sie ist eine Gebrauchsnorm, die der Sprechwirklichkeit nahekommt. Sie erhebt jedoch keinen Anspruch darauf, die vielfältigen Schattierungen der gesprochenen Sprache vollständig widerzuspiegeln.

  2. Sie ist überregional. Sie enthält keine typisch landschaftlichen Ausspracheformen.

  3. Sie ist einheitlich. Varianten (freie Varianten und Phonemvariation) werden ausgeschaltet oder auf ein Mindestmaß beschränkt.

  4. Sie ist schriftnah, d. h., sie wird weitgehend durch das Schriftbild bestimmt.

  5. Sie ist deutlich, unterscheidet die Laute einerseits stärker als die Umgangslautung, andererseits schwächer als die zu erhöhter Deutlichkeit neigende Bühnenaussprache.

In den vergangenen Jahren wiederholt gemachte Versuche, innerhalb der Standardlautung verschiedene Formstufen (formelles, langsames, vertrauliches, schnelles usw. Sprechen) zu beschreiben und zu normen, haben bisher noch nicht zu einheitlichen und eindeutigen Ergebnissen geführt.

Aus: Duden Bd. 6, Das Aussprachewörterbuch 2. 29f