Komplexantwort auf mehrere Beiträge
Grüßt euch!
Ich bin faul und zwänge meine Antworten in einen langen Kommentar.
Viel Spaß.
Ein besonders folgenreicher Trauerfall der CDU-Politik in Sachsen ist die Vorschulerziehung. Die hatte ich eingangs vergessen.
Wie ich schon sagte, beklagen die Lehrer die mangelhaften Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Kinder zum Schuleintritt mitbringen, auf denen früher aber noch aufgebaut werden konnte:
Der einheitliche Erziehungsplan des DDR-Kindergartens forderte für die sogenannten „Beschäftigungen“ (= kindgerechter Schulunterricht).
Anzahl der Beschäftigungen innerhalb eines Zeitraumes von zwei Wochen
Beschäftigungen
Muttersprache 2
Kinderliteratur 1
Bekanntmachen mit dem
gesellschaftlichen Leben 2
Bekanntmachen mit der Natur 2
Entwicklung elementarer
mathematischer Vorstellungen 4
bildnerisch-künstlerische
und konstruktive Tätigkeiten,
Betrachten von Kunstwerken 5
Musik 2
Sport 2
Anzahl der Beschäftigungen täglich : 2
à 20 min (kleine Gruppe, 3jährige)
25 min (mittlere Gruppe, 4jährige)
30 min (große Gruppe, 5jährige)
Sportbeschäftigungen immer 45 min
Der Kindergarten forderte das konsequente Beachten bestimmter Regeln, nach denen sich die Familie richten mußte. Die Kinder mußten spätestens 7.30 Uhr im Kindergarten sein. Heutzutage bringen die Eltern die Kinder, wenn es ihnen gerade einkommt, teilweise erst um 9 Uhr! Wie die Kinder einen regelmäßigen Tagesablauf und das frühe Aufstehen lernen sollen, interessiert die Alten nicht.
Der Kindergarten erzog die Kinder nach einem (und zu einem) rhythmisierten, festen Tagesablauf. Die Kinder sollten lernen, daß der Tag früh beginnt und sinvoll eingeteilt werden muß.
Die Beschäftigungen förderten die Kinder allseitig:
Sprecherziehung, Wortschatzschulung, Üben der Handmotorik, ruhiges Zuhören und Konzentrieren, wenn vorgelesen wird, Mengenlehre, Rechnen mit Mengen, Formenlehre, Naturerscheinungen, Tanzen, Singen, Basteln, Körpererziehung usf.
Außerdem erlebten die Kinder Schulunterricht und lernten, wie sich mehrere Kinder konzentriert und diszipliniert mit einer Sache beschäftigen.
Diese erfolgreiche Vorschulerziehung wurde aus typisch konservativen, familienpolitischen Sichtweisen der CDU in Sachsen völlig aufgegeben.
Wer Glück hat, erwischt vielleicht eine Erzieherin der alten Schule, die ihren Kindergarten oder ihre Gruppe nach dem alten Bildungs- und Erziehungsplan der DDR führt.
Die meisten Kindergärten verdummen die Kinder lieber. Es wird nicht mehr erzogen, es fehlt die systematische Vorschule für 3jährige.
Und der Respekt fehlt auch: Bei uns hießen die Erzieherinnen „Frau Müller“, heutzutage reden die Kinder die Erzieher mit dem Vornamen an und mit „Du“.
Da braucht es einen nicht zu wundern, wenn die älteren Kinder die Höflichkeit einer Axt im Walde haben.
Vielleicht sollte man den neumodischen Erziehern mitteilen, daß Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Kinder brauchen Unterstützung von uns Alten, weil sie defizitär und unbeholfen sind. Es sind keine kleinen Demokraten, sondern hilflose, unmündige Menschen, die ohne die Hilfe vieler älterer Menschen im Handumdrehen verloren wären.
Ich zitiere
_Das Kind ist ein gesellschaftliches Wesen, das in der Wirklichkeit und nicht in seiner eigenen Welt lebt, und diese Wirklichkeit stellt bestimmte Anforderungen an das Kind, die es anfangs nicht allein, sondern nur mit Hilfe der Erwachsenen befriedigen kann.
Das Kind im Vorschulalter darf daher nicht in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt sich selbst überlassen bleiben. Die Entwicklung eines Kindes ist kein unhabhängig verlaufender Prozeß, sondern von der Umwelt abhängig und ist nur im Zusammenhang mit der Umwelt zu begreifen.
Die vorschulische Erziehung kann sich nicht in erster Linie darauf stützen, daß das Kind seine Aktivitäten in Spiel- und Beschäftigungsprozessen frei wählt. Es ist vielmehr notwendig, beim 3jährigen Kind beginnend, einen planmäßigen Bildungs- und Erziehungsprozeß zu gestalten, in dem dem Kind systematisch Eindrücke vermittet werden und der in seinen Zielsetzungen durch die Wirklichkeit der Umwelt bestimmt sein muß._
Netti Christensen, 1950
Wird heute generell weniger unterrichtet oder wird dieser Unterschied vollstaendig durch gesellschaftswissenschaftliche Faecher und Fremdsprachen kompensiert?
Es wird weniger unterrichtet und der Unterschied wurde teilweise ausgeglichen - mit Religion/Ethik und ein paar Stunden für Fremdsprachen.
Nach der Wende wurden die Stundenzahlen der POS und der EOS weitreichend verringert. Die westdeutschen Funktionäre drängten auf die Übernahme der Stundennorm aus den alten Bundesländern (30 Wochenstunden). Insbesondere in den unteren Klassen mußte die Stundenlast deutlich reduziert werden.
Die Westdeutschen meinten, die Kinder würden erheblich überfordert.
Nach den „Korrekturen“ der Stundentafel erfolgte deswegen eine erhebliche Verflachung der Lehrpläne in Deutsch und Mathematik. De facto sämtliche Inhalte, die es in den Lehrplänen der BRD nicht gab, wurden gestrichen.
Σ Pflichtstunden Unterstufe (1.-4. Klasse)
Sachsen DDR DDR
Grundschule POS POS
heute 1959 1971
Deutsche Sprache\* 37 51 51
Mathematik 20 24 23
Werken 4 5 5
Schulgarten - - 4
Nadelarbeit - 2 -
Kunst 5 4 5
Musik 6 4 5
Sport 12 10 9
Fremdsprache 4 - -
Religion/Ethik 7 - -
95 100 102
* Sachsen: Deutsch 27 Std. + Sachunterricht 10 Std.
In der DDR existierte kein Sachunterricht, sondern die Bezeichnung lautete Heimatkunde. Heimatkunde wurde 1955 eingeführt und stellte nie ein eigenständiges Fach dar, sondern wurde als Teillehrgang konzeptionell und methodisch in den Deutschunterricht eingeschmolzen.
Σ Pflichtstunden Oberstufe (5.-10. Klasse)
Sachsen DDR DDR
Gymnasium POS POS
heute 1959 1971
Deutsche Sprache
und Literatur 25 32 30
Mathematik 25 33 31
Physik 10 16 13
Chemie 7 12 10
Biologie 11 13 11
Geographie 10 11 11
Astronomie - 1 1
Technik 14 23 22
Fremdprache 22 24 23
Geschichte 11 11 11
Staatsbürgerkunde - 3 5
Gemeinschaftskunde 4 - -
Kunst 7 5 5
Musik 8 6 6
Sport 15 14 14
Religion/Ethik 12 - -
2. Fremdsprache 18 (13) (11)
199 204 191
(217) (202)
Die 2. Fremdsprache gehörte in der DDR nicht zum Pflichtunterricht der polytechnischen Oberschule, konnte jedoch fakultativ ab Klasse 7 besucht werden. Die Kinder, die nach der 8. Klasse auf die EOS wollten, mußten, wenn möglich, eine 2. Fremdsprache beginnen.
Geographie gehört nicht zu den MINT-Fächern, reinerlein
Ich weiß. Ich schrieb für die Tabelle eine kleine Bemerkung, die ich aber später löschte. Ich dachte, es würde keiner mitbekommen.
Richtig, Geographie ist heute keine Naturwissenschaft mehr.
Als ich in die Schule ging, verhielt es sich jedoch anders. „Erdkunde“ wurde naturwissenschaftlich gelehrt und durfte in der schriftlichen Reifeprüfung als naturwissenschaftliche Prüfung (5 Stunden!) ausgesucht werden. Mit der Lehrplanreform 1971 erweiterte die DDR die Schwerpunkte in ökonomischer und politischer Geographie, so daß sich die naturwissenschaftlichen Inhalte auf ~50% reduzierten.
Auf Grund des Kurssystems läßt sich die Erweiterte Oberschule leider nur indirekt der gymnasialen Oberstufe in Sachsen gegenüberstellen.
Inspiriert vom Fleiß, den miezekatze zeigte, habe ich meine Stundenpläne aus meinen alten Schülertagebüchern gleich lesefreundlich in Zahlen umgeschrieben.
POS EOS
B-Zweig
Klasse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Deutsche Sprache
und Literatur 8 12 14 16 8 6 5 5 5 4 4 4
Mathematik 5 5 6 6 6 6 6 5 5 5 6 5
Physik 3 3 3 3 3 3 3
Astronomie 1+1
Chemie 2 3 2 3 3 3
Biologie 3 2 2 2 2 3 3 3
Erdkunde 2 2 2 2 2 2 1 1
Werken 1 1 1 2 2 2
Nadelarbeit 1 1 1
TZ 1 1 1 1
UTP 3 4 4 4 4 4
Russisch 5 5 4 3 3 3 3 2
Englisch 2 2 3 2
Geschichte 1 2 2 2 2 2 2 3
Staatsbürgerkunde 1 1 1 1
Kunst 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Musik 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Sport 1 1 2 3 3 3 2 2 2 2 2 2
Σ Pflichtstunden 17 21 26 30 33 33 34 34 36 37 37 37
+ Englisch 4 4
+ gesellsch.-
nützl. Tätigkeit 2 2
Abkürzungen: Technisches Zeichnen (TZ), Unterrichtstag in der Produktion (UTP), gesellschaft-nützliche Tätigkeit (Arbeits- und Produktionseinsätze)
Die Stundentafel ist im Grunde ein Flickwerk aus vielen unterschiedlichen Stundentafeln, denn meine Schule existierte bei meinem Schuleintritt (1954) in Form einer Grundschule, wurde später Mittelschule (1956) und schließlich polytechnische Oberschule (1959); die amtliche Stundentafel änderte sich jährlich mitsamt einer Fülle von Übergangsregelungen. Meine Eltern erhielten immer viele Durchschläge, Schreiben und Übersichten in den Elternabenden.
Ab der 6. Klasse wurde es nach unaufhörlicher Schulreformerei ruhig.
An der EOS fiel unsere B-Klasse unter eine Übergangsstundentafel, da sich der Ausbau der alten Oberschule in eine erweiterte Obeschule hinzog. Des weiteren genoß die Schule eine Sonderlehrgenehmigung für +1 Stunde Astronomie in der Klasse 12, weil die Schule über ihren eigenen Astronomieturm (Observatorium) verfügte. Der Fremdsprachenunterricht in Englisch mußte wegen Lehrermangels in der 10. und 12. Klasse reduziert werden, und zwar jeweils -1 Stunde. Das gleich widerfuhr Russisch in der 12. Klasse, -1 Stunde.
Während meiner Schulzeit auf der EOS wurde neben dem Abitur eine Berufsausbildung absolviert. Die 4 Wochenstunden für UTP flossen deswegen vollständig in die „berufliche Grundbildung“ und wurden für berufstheoretischen und berufspraktischen Unterricht eingesetzt.
Hier das G9 der Hohenzollern zum Vergleich. Auch das neunjährige mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium mit Bummelabitur schwächelt.
http://www.ls-bw.de/allg/lp/stgysn.htm
Und der erste G8-Versuch damals war auch nicht das Wahre.
http://www.ls-bw.de/allg/lp/stgy8n.gif
Die DDR achtete auf eine sehr straffe Organisation des Schultages.
Eine Schule in der DDR beschäftigte immer ausreichend viele Lehrer, damit möglichst in keinem Stundenplan irgendeiner Klasse eine Freistunde nötig wurde. Das Ministerium für Volksbildung bezeichnete diese Struktur als „Schule mit festem Tagesablauf“. Die Kinder sollten in allen Klassen montags bis sonnabends zur gleichen Uhrzeit Unterrichtsende haben. (Es fiel nämlich einigen Psychologen auf, daß in Schulen, die den Unterricht hintereinander organisierten, der Schulalltag ruhiger verlief, die Kinder sich auf das Lernen und die Lehrer sich auf den Erziehungsprozeß konzentrieren konnten. Diese Schulen erzielten in den Schulüberprüfungen höhere Ergebnisse.)
Sicherlich funktionierte diese Struktur nicht immer perfekt, denn schließlich herrschte chronischer Lehrermangel, der erst in den 80ern kompensiert werden konnte.
Der Punkt ist: Verglichen mit der anorektischen CDU-Politik in Sachsen, wurde trotz der wirtschaftlichen Zwänge viel mehr im Bildungssystem bewegt.
Die hohe Lehrerzahl ließ außerdem den Stundenausfall de facto völlig verschwinden. Während meiner Schulzeit hatte ich 0 Stunden Unterrichtsausfall (die leichten Stundenreduktionen in den Sprachfächern nicht berücktsichtigt). Unsere Kinder hatten in ihrer Schulzeit ebenfalls 0 Stunden Unterrichtsaufall.
Wenn ein Lehrer seinen Unterricht nicht erteilen konnte, ist ein anderer Fachlehrer eingesprungen. Fachfremde Vertretung wurde gemieden, wie der Teufel das Weihwasser meidet.
Auch das Schuljahr wurde straffer organisiert, aber das soll hier nicht betrachtet werden…
ganztags in der Schule
Richtig. Der Unterricht fand vormittags statt, nachmittags durften die Schüler die „außerunterrichtliche Tätigkeit“ besuchen. Es handelte sich um eine Unmenge qualitativ sehr guter Arbeitsgemeinschaften und Interessenszirkel.
1960 (1975) betätigten sich 65% (85%) der POS-Schüler und 59% (80%) der EOS-Schüler außerunterrichtlich. Als sehr beliebt galten die künstlerisch-musischen Arbeitsgemeinschaften, gefolgt von den mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Arbeitsgemeinschaften mit teilweise sehr hohen Mädchenquoten (> 50%).
Außerdem beteiligten sich 82% aller Schüler im organisierten Freizeitsport/ Kindersport.
Etwa 77% der Arbeitsgemeinschaften wurden von Pädagogen geleitet, die restlichen 23% entfielen auf Spezialisten wie Ingenieure, Bildhauer, Musiker etc.
Die EOS konnte des weiteren spezielle Arbeitsgemeinschaften bieten, die in Form eines Kursunterrichts abliefen. (Später entstand aus diesen Arbeitsgruppen der „fakultative Unterricht“.)
Die EOS, die ich besuchte, hatte bspw. sehr viele Arbeitsgemeinschaften für Mathematik und Naturwissenschaften eingerichtet:
Stochastik,
Angewandte Matrizenrechnung,
Algebraische Strukturen,
Logik,
Nichteuklidische Geometrien,
Projektive Geometrie,
Elementare Zahlentheorie,
Mathematik des Altertums,
Fehlerrechnung und Ausgleichsrechnung,
Kugelgeometrie, Navigation und mathematische Himmelskunde,
Geodäsie und Kartographie,
Physik des Erdinnern,
Physik der Erdatmosphäre,
Gesteinskunde,
Klima und Erdgeschichte,
Kosmologie und Planetenkunde,
Festkörperphysik,
Elektronik,
Chemie des Erdöls,
Chemie des Wassers,
Chemie der Metalle u.v.v.m.
Die künstlerisch-musisch interessierten Schüler konnten ähnlich viel machen.
Die Rahmenprogramme der Arbeitsgemeinschaften wurden von den Lehrern üblicherweise mit 2 Wochenstunden geplant. Einige Lehrer schufen die Arbeitsgemeinschaften aus Lehrstoff, der in der alten Oberschule zum Standard gehörte, im Lehrplan der erweiterten Oberschule jedoch entfiel.
Ich müßte noch einmal nachschauen, welche außerunterrichtlichen Tätigkeiten ich besuchte. Ich weiß aber, daß es sehr viel gewesen ist.
(Es gab ja auch soviel und alles war interessant.)
Außerdem sind diese Tabellen, die du hier postest, nur Zahlen.
Und diese Zahlen sind nicht aussagekräftig.
Diese Zahlen sind sehr aussagekräftig, denn mit diesen Zahlen sind entsprechende Lehrpläne verknüpft gewesen. Die polytechnische Oberschule wurde im wesentlichen konzipiert als Realgymnasium. Ein Forschungsbericht zum Mathematikunterricht der Universität Rostock hielt vor einigen Jahren fest, daß die DDR-Lehrpläne in Mathematik mindestens Gymnasialniveau hatten. Das gleiche gilt für die Naturwissenschaften und das Polytechnikonzept der DDR ist ohnehin ein Unikat gewesen. Auch die Sowjetunion hatte nichts Derartiges.
In Englisch hatte sie zwar genauso viele Stunden wie ihre bayerischen Mitschüler - trotzdem ist sie hinterher. In anderen Fächern hatte sie teilweise weniger Stunden - trotzdem weiß sie mehr.
Es hängt davon ab, was in den Stunden vermittelt wird.
Auf dem Gymnasium wird ach so toll unterrichtet - möchtest Du uns das erzählen?
Deine These gilt nur unter der Bedingung, daß keine der Schulen, die Du vergleichst, ein Optimum aus Stundenzahl und Methodik findet.
Was geschieht jedoch, wenn ich hohe Stundenzahlen und intensives Lehren kombiniere und darauf achte, den schlechteren Schüler genügend Hilfe zukommen zu lassen?
Ich würde eine integrative Schule schaffen, die für mindestens 80% der Schüler (teilweise) Gymnasialbildung bietet.
Wenn ich mir die bayrischen Lehrpläne betrachte, bestätigt sich der Eindruck, den ich immer wieder bei bayrischen Studenten erlebe: Stoff stur eingepaukt, aber nicht anwendungsbereit und schnell wieder vergessen. Ein Kenntnisunterschied zu den thüringischen oder sächsischen Studenten ist auch nicht zu identifizieren.
Stichwort Matthäus-Prinzip - ein Schüler muß den alten Stoff und die notwendigen Vorleistungen felsenfest beherrschen, sonst versteht er den neuen Stoff schlecht oder überhaupt nicht und die Lernfortschritte gehen zurück.
Wenn ich bspw. im bayrischen Mathematiklehrplan die Stundenwerte für viele Stoffgebiete sehe, bezweifle ich ernsthaft, daß in einer Klasse, die den Lehrstoff derart oberflächlich behandelt, irgendein Schüler systematisches, anwendungsbereites Können in Mathematik entwickelt. Die meisten Schüler können vielleicht Kochrezepte und auswendige Algorithmen in Standardaufgaben einsetzen, doch für mehr fehlt die Unterrichtszeit.
Einmal hören und gleich weitermachen ist etwas völlig anderes als Beweisen, problemorientiertes Denken und naturwissenschaftliche und polytechnische Anwendungsaufgaben lösen.
Mir braucht auch keiner erzählen, daß die Übung durch die Hausaufgaben erfolgt, denn wir hatten auch Hausaufgaben, und nicht zu knapp. Das Ministerium für Volksbildung legte die wöchentliche Last für Schularbeiten per Verordnung fest.
Klasse Richtwerte für Schularbeiten
(volle Stunden)
Unterstufe 1-4 6
Oberstufe 5-6 7
7-8 8
9-10 10
EOS 9-12 12
Soviel Hausaufgaben können vom Lehrer nicht aufgegeben werden, daß der Schüler die komplexen Übungen vollständig zuhause übt. Außerdem führt die Verschiebung solcher Unterrichtsbestandteile in die außerschulische Zeit dazu, daß sich eine Friß-oder-stirb-Atmosphäre entwickelt - das 100%ige Gegenteil dessen, was eine leistungsorientierte, dem Schulerfolg des Schülers verpflichtete Schule möchte.
Wichtig ist, daß vielfältig geübt, wiederholt und vertieft wird, mit den guten Schülern, mit den normalen Schülern, mit den schlechten Schülern und daß die Aufgaben erzwingen, Bisheriges anwenden zu müssen. Und mit 3 Wochenstunden Mathematik ist auch Bayern auf dem Holzweg.
Den Stoff im Eiltempo durchzupeitschen ist eine dieser typischen Irrungen und Wirrungen eines gegliederten Schulsystems, denn es ist nichts primitiver als der Schülerschaft die Pistole auf die Brust zu setzen und die, die eigentlich Hilfe brauchen, auf eine niedere Schule abzuschieben.
Geschickt ist es höchstens, einen solchen katastrophalen Zustand als „Niveau“ darzustellen.
Mir fällt auch auf: In den alten Ländern scheint es populär zu sein, einige Fächer zu lehren und im darauffolgenden Schuljahr auszusetzen. Bei uns wurden Fächer stets durchgängig unterrichtet. Das ist schon wieder dieses Thema: Matthäus-Prinzip, fehlende Wiederholung, fehlende Grundlagen, Stagnation. Wenn ich mir überlege, was Schüler vergessen und wieder mühsam aufgearbeitet werden muß, wenn ein Schuljahr lang nichts in einem Fach gemacht wird.
dass es sich […] nicht um eine Einheitsschule handelt
Wenn ich nach der Definition gehe, wie die DDR ihre Einheitsschule beschrieben hat, liegst Du richtig.
Eine Einheitsschule ist keine „eine Schule für alle“.
Der englische/walisische Oberstüfler, sofern er überhaupt akademische Fächer macht, ist ein Fachidiot.
Für mich sind westdeusche Abiturienten auch Fachidioten -
oder glaubst Du ernsthaft, ich akzeptiere für ein Schmalspurabitur mit Kurssystem den gleichen Wert wie für mein Abitur?
In Frankreich sieht es noch schlimmer aus.
Andere Länder, andere Sitten.
Franzosen und Sprache ist eine eigene Geschichte und daß Engländer überhaupt Fremdsprachen lernen, ist beachtlich. Wer die Weltsprache spricht, lebt ziemlich einfach.
Ich finde es interessant, daß Du Dich vor allem auf die Fremdsprachen einschießt. Meiner Meinung nach werden im gegliederten Schulsystem die Sprachen viel zu sehr betont, zuungunsten anderer Fächer.
Die Einheitsschule in Schweden funktioniert übrigens auch nicht mehr, seit mehr und mehr Ausländer kommen…
Das ist Problem der Integrationspolitik, nicht der Struktur der Einheitsschule. Siehe Frankreich.
Die Einheitsschule in Frankreich ist im Niveau nicht eingebrochen, wie populistisch immer behauptet wird, dagegen sprechen sehr gute Leistungen in Gegenden mit geringem Ausländeranteil.
Doch in Frankreich ist mit den Algeriern das gleiche geschehen, wie hier mit den Türken. Ghettobildung, Parallelkultur, fehlende frühkindliche Förderung (Sprache), Armut, Gewalt.
Meiner Meinung nach käme kein Schulsystem mit Ausländern besser zurecht als die DDR-Einheitsschule.
Nichts wäre in der DDR einfacher gewesen, als den 3jährigen Kindergarten für Ausländer gesetzlich zur Pflicht zu machen.
Nichts wäre in der DDR einfacher gewesen, als pro Kindergarten eine zusätzliche Erzieherin mit Spezialausbildung (Deutsch als Fremdsprache) einzusetzen.
Womit wir beim entscheidenden Punkt sind.
Die Einheitsschule der DDR ist ein abstraktes, systemtheoretisches Ordnungsprinzip - keine „eine Schule für alle“, die sozialistische Gleichmacherei betreibt.
Wenn ich z.B.
- eine wohnortnahe Schule
- kurze Schulwege ohne ÖPNV
- einzügige vollausgebaute Tagesschulen
- Schulen mit festem Tagesablauf
- eine einheitliche Vorschulerziehung
- Vergleichbarkeit der Noten
- Vergleichbarkeit der Abschlüsse
- Transparenz des Schulwesens für die Eltern
- einheitliche Bildung für alle Kinder
- gleichen Zugang zu guter Nachmittagsbetreuung für alle Kinder
- einheitliche Lehrbücher
- einheitliches Equipment in den Schulen
- geringe Streuung des Niveaus von Schule zu Schule
- Chancengleichheit
- gute Lehrer für alle Kinder und nicht für Gymnasien
- einen ruhigeren Schulalltag
- langfristige Planungen
- eine optimale Ausschöpfung der Investitionen
- schnelle Regelungs- und Einflußmöglichkeiten
etc. etc. etc. möchte, gewinnt immer die Einheitsschule.
Zeichne Dir auf ein weißes Blatt viele kleine Kreise. Verbinde die Kreise irgendwie zufällig und benenne die Kreise anschließend mit „Gymnasium“, „Realschule“, „Hauptschule“, „Grundschule“.
Zeichne danach auf ein weiteres Blatt viele kleine Kreise und notiere für sämtliche Kreise „Basisschule“.
Ich kann nicht 4 oder mehr Schulformen in eine kleines Dorf bringen.
Ich kann nicht die Schulen im Gegenzug weitläufig verteilen, ohne Kinder zu benachteiligen.
Ich kann die Kinder nicht nach der 4. Klasse aussortieren und den schlechteren Schülern eine nachhaltige Hilfe aus einer Hand bieten.
Ich kann die Kinder nicht früh trennen, aber die Kinder in einer stabilen, beruhigten Lernumgebung lassen wollen.
Ich muß Lehrpläne immer 4fach entwerfen.
Ich muß Lehrmittel und technisches Equipment immer 4fach beschaffen.
Ich muß Lehrbücher mindestens 4fach konzipieren.
Ich muß die Lehrerausbildung vertikal gliedern und die Standesunterschiede der Schulen auf die Lehrer übertragen.
Ich muß einen allseitigen Bildungsbegriff mit Gewalt in seine Einzelteile zerlegen und hemme auf diese Weise nachhaltig die Talent- und Begabungsentwicklung aller Kinder. (Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teil.)
Aber die Fetischisten des gegliederten Schulsystem verstehen es einfach nicht (oder ignorieren es geflissentlich).
Die Einheitsschule beeinflußt den individuellen Lernerfolg des einzelnen Kindes relativ gering - es geht um ein Fundament, das das Leben in der Schule in alle Himmelsrichtungen leichter macht. Bei gleichen Investitionen ist die Einheitschule das organisatorisch leistungsfähigere und einfachere Modell. Lernergebnisse werden wesentlich durch die Randbedingungen beeinflußt und ein gegliedertes Schulsystem schafft maximale Unruhe bei minimaler Unterstützung.
Ich glaube weiterhin, dass das System für den Lernerfolg relativ
unerheblich ist
Siehe oben. Das bedeutet, wir könnten das unübersichtliche, unnötige Nebeneinander verschiedener Schulformen abschaffen.
Die Kämpfer des Gymnasiums vergessen auch immer, daß die Kinder, denen das Gymnasium verweigert wurde, auch gute Bildung möchten. Bayern ist mit Abstand unübertroffen in Sachen ungerechte und fragwürdige Trennung der Kinder - es maulen immer die gegen die Einheitsschule, die es auf das Gymnasium schafften.
Die einzige einigermaßen ordentliche Methode in Deutschland ist die
analytisch-synthetische Methode
Leselernmethode hat aber mal null mit der Lesekompetenz oder Rechtschreibkompetenz zu tun.
Ironie? Bestimmt.
reinerlein