Aw: Trauerfall Sachsen
Guten Abend.
wie kommt es, daß die Sachsen bei Pisa vorne mitmischen?
Warum zweifelst Du?
Die Sachsen sind doch das erfolgreichste Volk der Welt.
Ernsthaft:
Den Unterschied machen im wesentlichen 2 Dinge aus:
Daß Sachsen schon dreimal in Folge den 1. Platz erreichte, gibt eher Grund zu pessimistischen Interpretationen.
Welche Bildungspolitik betreibt Sachsen denn?
Die gleiche konservative Bildungspolitik, die nach der Wende mit vielen Milliarden DM die Einheitsschule der DDR aufwendig beseitigte.
Der Spruch der baden-württembergischen CDU-Funktionäre damals:
„Die Investitionen für Bildung und Kultur müssen in allen Ebenen verringert werden.“
Mit anderen Worten: Bildung darf nichts kosten!
Und Sachsen führt diese rücksichtlose Politik unbeirrt fort - tragen wir Fakten zusammen.
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Tausende Leher wurden nach 1990 entlassen.
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Die Schuldichte wurde extrem verringert, das Schulnetz ist sehr dünn, insbesondere in den ländlichen Gebieten.
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Die durchschnittliche Zahl der Schüler pro Klasse liegt mit 22,6 sehr hoch, ~ 20% größer verglichen mit den Unterrichtsbedingungen zu DDR-Zeiten.
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Sachsens Lehrerschaft ist die schlechtestbezahlte in der Bundesrepublik, denn nach der Wende behielt Sachsen die DDR-Tradition bei, daß Lehrer keine Beamten sondern Staatsangestellte sein sollen.
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Die meisten Lehrer arbeiten in Teilzeit.
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Der vermeintliche Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften ist meiner Meinung nach lächerlich. (siehe unten)
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Die Schulen zehren von der Substanz und leben ausschließlich vom Engagement der einzelnen Lehrer.
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Die Statistiken bezüglich Lehrerzahlen und Lehrerneueinstellung werden geschönt.
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Die berufsalltagsfremde westdeutsche Lehrerausbildung wurde übernommen.
Eine unserer Töchter ist Erzieherin in einem Schulhort.
Ihre Berichte sind weitaus weniger euphorisch wie die Kommentare des Kultusministeriums oder die der Presse. Meine Frau meint dazu bissig: „Wenn die sächsischen Kinder die besten sind, wie schlecht müssen erst die anderen sein?“.
Die Lehrerschaft in Sachsen weist ein durchschnittliches Alter von über 50 auf, d.h. viele absolvierten in der DDR ihr Studium. Diverse Untersuchungen zeigten wiederholt, daß die alten Lehrer immer wieder ihre DDR-Ausbildung anwenden. Bundesrepublikanisch geprägte Lehrpläne werden heimlich ignoriert, Unterricht wird mit den alten Lehrplänen, Handreichungen und Methodikhilfen vorbereitet, statt pseudomodernem Methodenwirrwarr wird handwerklich unterrichtet, Leistung wird eingefordert.
Dennoch klagen die Lehrer sehr viel über den Niveauverlust, über die Eltern und über die Kinder. Vielen macht der Beruf keinen Spaß mehr, denn in der BRD ist der Lehrer der Dorftrottel der Nation, der im Schulalltag ein stumpfes Schwert führt.
Verzogene Kinder mit schwachen geistigen Leistungen, ohne Ordnung, ohne Konzentrationsfähigkeit, geringe geistige Aufnahmefähigkeit, schlechte Sprachbeherrschung zum Schuleintritt, unbeherrschtes Betragen, Kraftausdrücke, kein Anstand, universelles Desinteresse gegenüber allem, keine Hilfsbereitschaft, gesellschaftlich unbeholfen.
Die Eltern erzieherisch inkompetent, antiautoritär, weichgespült, aggressiv-militant gegenüber Lehrern.
Diese Kulturimplosion seit 1990, dieser antiautoritäre Tsunami, der die heutige Elterngeneration überspülte, belastet die Lehrer sehr, denn in der DDR hatte der Lehrer „die führende Rolle im Bildungs- und Erziehungsprozeß“. Der Lehrer bestimmte, und nicht die Kinder.
Sachsen spart in seinem dreigliedriges Schulsystem mit aller Gewalt und die Lehrer müssen diese altbackene CDU-Politik ausgleichen. Schulen werden geschlossen, das Geld fließt lieber in die Gymnasien, Lehrer werden so gut wie keine eingestellt. Die Statistiken verschweigen, daß die geringe Schuldichte weite Schulwege erforderlich macht, die Busfahrkarten sind teuer, die Lehrmittel sind teuer, die Nachmittagsbetreuung ist kein Vergleich zu früher. Des weiteren gibt es Unterrichtsaufall, zunehmend fachfremde Vertretungen und Freistunden in den Stundenplänen, die den Schultag dehnen.
Kinder aus finanzschwachen Familien werden erheblich benachteiligt, insbesondere in den ländlichen Regionen.
Hinzukommt der unruhige Schulalltag, den uns unsere Tochter immer wieder beschreibt. Die langen Schulwege mit dem Bus ersticken eine ausgedehnte Nachmittagsbetreuung, weil die Busfahrzeiten beachtet werden müssen. Die Kinder werden unglaublich unbeholfen und unselbständig erzogen. Die Eltern kommen wegen sämtlichem Mist in die Schule gepoltert, die Kinder werden immer mit dem Auto geholt und sei es draußen strahlender Sonnenschein und 300 Meter Schulweg. Immerfort telephonieren die Eltern den Kindern hinterher.
Die Eltern kümmern sich um nichts und interessieren sich auch für nichts, die Eltern lesen das Hausaufgabenheft nicht ordentlich, die Eltern verwechseln Termine, die Eltern kontrollieren den Schulranzen nicht, die Eltern kennen den Zensurenstand ihres Kindes nicht, die Eltern lesen Schriftstücke der Schule nicht richtig und brüllen danach wutentbrannt die Lehrer und Erzieher voll, warum niemand etwas sagte.
Die Buszeiten vieler Kinder sind von Tag zu Tag unterschiedlich.
Unsere Tochter macht sich wöchentlich (!) eine große Liste für die Buskinder, und Montag früh liegen 20 Zettel auf dem Schreibtisch, welche Festlegungen sich bereits wieder geändert haben. Die Kinder begreifen es ohnehin nicht und erzählen viel Unfug, auf den sich niemand verlassen kann (oder belügen die Lehrer und Erzieher), die Alten haben keinen Überblick.
Und die Trennung nach der 4. Klasse läßt die Grundschule überhaupt nicht zur Ruhe kommen, weil die Kinder unbedingt aufgeteilt werden müssen.
Ein weiterer Punkt: Die Sachsen wollen mehrheitlich ein integriertes Schulsystem wie früher - die CDU beendete nach der Wahl 2009 die Gemeinschaftsschulversuche.
Nach der Meinung der Lehrer beweisen Sachsens Erfolge bei der nationalen PISA-Studie vielmehr, daß das gegliederte Schulsystem inakzeptable Schwächen zeigt - einerseits wird der Standard der Einheitsschule nicht erreicht, andererseits überholt die partiell integrative, kooperative Gesamtschule („Mittelschule“ in Sachsen, „Regelschule“ in Thüringen) die reinen dreigliedrigen Schulsysteme in Süddeutschland.
„Ein weiterer Aspekt, den die Studie besonders hervorhob, ist die naturwissenschaftliche Kompetenz der sächsischen Schüler. Die Stärke im MINT-Bereich konnte weiter ausgebaut werden. In Sachsen nehmen diese Stunden in allen Schularten rund ein Drittel der Stundentafel ein. Mathematik, Physik und Chemie sind bis zum Abitur verpflichtend.“
- verkündet das sächsische Kultusministerium
Sprüche, als sei das Rad erfunden worden!
Zahlen enthüllen dagegen, wie in Ostdeutschland das Niveau in den Fächern Deutsche Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften und Technik eingebrochen ist. Ein sächsisches Gymnasium könnte gegen eine polytechnische Oberschule nicht bestehen.
Die Stundenzahlen, die eine wichtige Randbedingung für Unterrichtserfolg darstellen, malen ein nüchternes Bild:
Σ Wochenstunden 5.-10. Klasse
math.-naturw.-techn. Fächergruppe
Sachsen DDR DDR
Gymnasium POS POS
(MNT) 1959 1971
Mathematik 25 33 31
Physik 10 16 13
Chemie 7 12 10
Biologie 11 13 11
Geographie 10 11 11
Astronomie - 1 1
Technik 14 23 22
77 109 99
Wo ist der MNT-Schwerpunkt?!
Diese Tabelle wirft vielmehr die Frage auf, auf welchem unterirdischen Niveau die Gymnasien der alten Bundesländer herumfuhrwerken, wenn Sachsen tatsächlich die größte mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Stundenverteilung in Deutschland festlegt.
Mit dem Lesen und der deutschen Sprache sieht es ähnlich aus.
Das Kultusministerium lobt sich selber, die Zahlen hingegen
Σ Wochenstunden 5.-10. Klasse
Deutsche Sprache und Literatur
Sachsen DDR DDR
Gymnasium POS POS
1959 1971
25 32 30
unterstützen den Eindruck vieler Erzieher und Lehrer, daß die Sprachleistungen der Schüler und die Geltung der deutschen Sprache seit 1990 erheblich leiden.
Bei Hinzunahme der Stundenzahlen für die unteren Klassen
Σ Wochenstunden Unterstufe
Deutsche Sprache und Literatur
Sachsen DDR DDR
Grundschule POS POS
1959 1971
37 51 51
ist die Lese- und Sprachkompetenz ernsthaft zu bezweifeln - vielleicht gut für ein gegliederten Schulsystem.
Die Leselernmethode ist auch ein Ding der Unmöglichkeit.
Die analytisch-synthetische Leselernmethode der DDR lehren und beherrschen vielleicht noch die alten Lehrer. Abseits dessen regiert das Chaos der Methodenvielfalt. Von Schule zu Schule unterscheidet sich die Leselernmethode. Seit 1990 wird sämtlicher Unfug mitgemacht: Ganzwortmethode, Lesen durch Schreiben und wie der Mist sonst noch heißt.
Dieses Chaos, das die ineffektiven Methoden verursachen, sieht man schnell bei einem Blick in die Hefte. Rechtschreibfehler in alle Himmelsrichtungen, die Phonetik der Sprache wird nicht beherrscht, ewig und drei Tage werden die gleichen Texte in der Fibel gelesen und die Kinder zeigen keine Gedächtnisleistung, ihr Vorlesen ähnelt dem eines Analphabeten, inhaltliches Verstehen allenfalls gering, die Schreibschrift geht auch zum Ende der 1. Klasse noch nicht richtig und das Sprachgefühl der Schüler der 4. Klasse liegt auf Hilfsschulniveau.
Zugleich erlitt ausgerechnet die Stundenzahl für die sprachlogischen Inhalte wie Lesen, Schreiben, Rechtschreibung und Grammatik, mündlicher und schriftlicher Ausdruck die größten Einbußen.
Und später wundern sich die Leute, warum unsere Kinder dumm wie Schifferscheiße sind und geistig verkrüppeln. Sprache ist das Alpha und das Omega - reichhaltiges Denken entsteht aus reichhaltiger Sprache.
Schlußendlich werden die Lehrer richtig liegen und Sachsens Bildungssystem bricht früher ode später ein. Denn eine solche Politik des finanziellen und geistigen Raubbaus, wie es normal für CDU-Regierungen ist, holt einen irgendwann ein.
Gute Nacht