Hallo!
In dem ersten Posting stand bereits etwas von einer
„Normalverteilung“. Das ist eine mathematisch definierte
Verteilungsform („Gaußsche Glockenkurve“) von Merkmalen.
Ja, das klingt ja sehr schön wissenschaftlich
Ich hoffe, den Psychologen sind die Mängel und
Unzulänglichkeiten solcher mathematischen Modelle, um
menschliches Verhalten zu beschreiben, genau so bewusst wie
den BWLern.
Die Normalverteilung ist kein Modell, um menschliches Verhalten zu beschreiben, sondern man kann sie benutzen, um die (Häufigkeits-)verteilung von Merkmalen zu modellieren.
Wenn solche Modelle jedoch aufgrund solcher
Fragebögen zustande kommen, wie sie weiter unten von Bettina
Wiese gepostet wurden, dann wundert mich allerdings nichts
mehr.
Die Normalverteilung kommt „nicht zustande“, auch nicht durch Fragebögen. Sie ist ein Modell.
Es gibt also
empirische Daten, die die Diagnose ADHD rechtfertigen.
Ich hoffe, du bezeichnest jetzt aber nicht Ergebnisse, die
aufgrund von besagten Fragebögen erhalten werden, als
„empirische Daten“ *g*.
Ich weiß nicht, von welchen Fragebögen Du sprichst.
Aber das nur am Rande, darum geht es mir gar nicht, auch wenn
ich über diese „empirische Wissenschaft“ der Psychologie etwas
schmunzeln muss. Vielleicht solltet ihr Psychologen euch mal
Modelle der BWLer anschauen, wenn es z.B. um Analyse von
Käuferverhalten geht. Ich denke, da könntet ihr noch einiges
lernen
Die Modelle zum Käuferverhalten stammen z.T. von Psychologen oder sind aus psychologischen Modellen entwickelt worden.
Wenn Du die Texte liest, stellst Du fest:
- Die Primärsymptome der Störung (das, was die Störung
definiert), sind zu einem erheblichen Teil genetisch bedingt.
Aus der Konsensus-Erklärung:
„Bei keiner psychiatrischen Erkrankung ist der genetische
Anteil mit 70?95 % so hoch wie bei den
charakteristischen ADS/ADS-Symptomen. Er entspricht etwa den
Bedingungen wie diese für die Körpergrösse des Menschen
beschrieben wird.“
Ahja, womit bewiesen wäre, dass Körpergröße auch eine
psychiatrische Erkrankung ist ? *g*.
Damit ist nachgewiesen, daß ADHD eine fast genauso starke genetische Grundlage hat wie die Körpergröße.
Ja, ein Kind, das die Primärsymptome von ADHD aufweist, aber
nicht darunter leidet bzw. in wichtigen Bereichen wie z.B. in
der Schule beeinträchtigt ist, bekommt regelgemäß NICHT die
Diagnose ADHD (DSM-IV Kriterium C).
Und ganz genau hier kippt meiner Meinung nach auch die
„Wissenschaftlichkeit“. Nur zum Vergleich: Ich kann ein
gebrochenes Bein völlig unabhängig davon diagnostizieren, wie
sehr der Betroffene darunter leidet.
Stimmt, das kannst Du. Bei psychischen Störungen geht es aber nicht, denn psychische Störungen sind etwas anderes als gebrochene Beine.
Wenn aber das „Darunter Leiden“ das Entscheidende ist, dann
brauchst du diesen ganzen Hokuspokus mit AHDH nicht mehr und
irgend einen Symptomkomplex, dem du den Stemple AHDH und
krank/Störung als Verursacher dieses Leidens aufdrücken
kannst.
Das Leiden ist nicht das Entscheidende, es ist eine notwendige Ursache, keine hinreichende!!
ADHD ist außerdem nicht die Ursache für den Symptomkomplex, ADHD ist nur die zusammenfassende Beschreibung dieses Symptomkomplexes. Die Ursache ist größtenteils genetisch. Das bestreitet Hartmann in seiner Farmer-/Hunter-Geschichte auch nicht. Im Gegenteil: Er sagt, daß die Hunter im evolutionären „Kampf“ „verloren“ haben und nun darunter leiden, daß sie die Minderheit sind. Nach Ansicht vieler Kulturanthropologen ist das erste falsch, nach meiner vieler Mediziner und Psychologen das zweite.
Nur mal zum Vergleich: Wenn ein junges Mädchen sehr darunter
leidet, dass sie bspw. eine sehr große Nase hat, dann kann es
durchaus sein, dass sie deshalb psychologische Hilfe braucht.
Oder eine plastische Operation.
Aber kein Mensch käme auf die Idee, deshalb „große Nasen“ als
Krankheit oder Störung zu bezeichnen, nicht mal Nasen, die
sich mit ihrer Größe am Rande der Gauschen Verteilungskurve
befinden.
Doch: Es gibt Nasen, die so dysfunktional geformt sind, daß sie eine plastische Operation notwendig machen, um Lebensfunktionen nicht zu gefährden.
Du hast prinzipiell immer die Möglichkeiten, bei
Störungen zwischen einem Menschen und seiner Umgebung
mehrere Variabeln (sowohl beim Menschen, als auch
seiner Umgebung, als auch der Interaktion zwischen den beiden)
zu verändern, um hier ein halbwegs harmonisches Miteinander zu
bewirken.
Nein, ich habe prinzipiell nicht immer die Möglichkeiten, an allen Rädern zu drehen, weil es sich z.B. bei ADHD um eine genetisch weitgehend determinierte Störung handelt. Ich befürworte keine Eugenik.
Der Ansatz, der hier bei AHDH von den von dir
genannten Quellen hier scheinbar vermittelt wird, läuft IMHO
auf das „Ohren zupulen“ hinaus (und endet auch da). Oder seh
ich das jetzt verkürtzt ? Beinhaltet eine ADHD-Behandlung in
deinem Sinne auch das Einwirken auf Umgebung und Interaktion,
also Beispielsweise die Veränderung von Verhaltensweisen von
Lehrern oder Unterricht auf Kinder mit der von dir genannten
AHDH-Diagnose ?
Klar, denn so gehört es sich für eine angemessene Therapie von ADHD. „Diese umfasst eine medikamentöse Therapie kombiniert mit pädagogischen und sozialen Unterstützungen“ (aus der von mir zitierten Konsensus-Erklärung). Die medikamentöse Therapie besteht aus der Gabe von Ritalin, die pädagogisch-sozialen-psychologischen „Unterstützungen“ finden im Rahmen von Therapieprogrammen wie z.B. THOP von Döpfner und Kollegen statt. Dabei wenden Eltern, Lehrer usw. bestimmte Verhaltensweisen an, die eine günstigere Interaktion zwischen den Betroffenen ermöglichen sollen.
Vielleicht ein besseres Gegenbeispiel:
Lange Zeit galt Homosexualität ebenfalls als wie du so schön
sagtest „Abweichung von der Norm“ und wurde als
Krankheit/Störung aufgefasst. Die mit der Homosexualität
verbundenen Leiden, wurden aber durch diese Bewertung häufig
grade erst verursacht.
Das ist ein Beispiel, das paßt. Es gibt aber auch Beispiele, die nicht passen: Schizophrenie, Autismus, Anorexia und eben ADHD. Bei Schizophrenie, Autismus und Anorexia wurden die Mütter als „Verursacherinnen“ der Störung ihrer Kinder angesehen - mit der Folge, daß die Mütter öffentlich an den Pranger gestellt wurden, weil sie angeblich ihre Kinder zu Schizophrenen, Autisten oder Anorektikerinnen gemacht hatten. Geholfen hat das den Kindern auch nicht.
Nach der Hunter-Fabel sind die Farmer am Leiden der Hunter Schuld - also die meisten von uns. Wieder entstehen künstliche Gräben, auf deren Seiten sich Leute unversöhnlich Schuldzuweisungen an den Kopf werfen. An ADHD ist aber niemand Schuld, weil ADHD eine genetisch determinierte Störung ist.
Unter zahlreichen meiner
psychologischen Kollegen sowie unter Medizinern und
Anthropologen besteht Einigkeit darüber, daß die
Farmer-/Hunter-Metapher extrem vereinfacht, ihre
entwicklungsgeschichtlichen Aussagen sachlich falsch sind und
die Gefahr der Verharmlosung der Schwierigkeiten von Menschen,
die ADHD-Symptome aufweisen, groß ist. Die von mir verlinkten
Texte umreißen diese Position und vervollständigen IMHO das
Bild zu Hartmanns Ansatz. Wir wollen uns in w-w-w doch nicht
vorwerfen lassen, daß wir zu einseitig wären, oder?
Nein, das sicher nicht. Ganz im Gegenteil sogar. Ich finde es
wichtig, dass unterschiedliche Ansätze hier auch öffentlich
diskutiert werden. Als Laie ist man doch häufig sehr schnell
bereit, den Ansatz, der grade von der Person vertreten wird,
auf die man zufällig trifft, als gegeben hinzunehmen, ohne von
den Kontroversen, die auch in Fachkreisen zu bestimmten Themen
bestehen, überhaupt etwas zu ahnen.
So ist es. Deshalb fand ich es wichtig, daß wir neben einer Pro-Hartmann-Position, die hier in den letzten Wochen vertreten wurde, auch die Contra-Hartmann-Position zu Wort kommen lassen.
Und ehrlich gesagt, die von dir angeführten Texte erscheinen
mir dann doch etwas sehr polemisch.
Der zweite Text ist polemisch, ja. Der erste nicht. Aber ich sehe nicht ein, warum keine polemischen Texte zitiert werden können, wenn es nicht ausschließlich passiert. Hartmanns Ansatz ist selbst polemisch - nur halt gegen die andere Position.
Ich hätte mir eine etwas
sachlicherer Auseinandersetzung mit diesem Hunter/Farmer
Ansatz gewünscht. Ich bin der Meinung, wenn es sachliche
Argumente für oder gegen etwas gibt, dann kann man diese auch
entsprechend präsentieren.
Das gebe ich an Dich zurück.
Gruß,
Oliver Walter