Hypnose und Verunsicherung
Mein Vorposter freut sich vermutlich nicht auf eine direkte Antwort, seine Laune ist im Keller, tut mir leid. Aber für eventuelle Mitleser habe ich mich heute abend zu einer Kurzvorlesung entschlossen.
Sicherlich berührt die Betrachtung religöser und paranormaler Erfahrungen auch das Thema Hypnose. Deswegen war es auch notwendig, auf in dieser Hinsicht allzu erwartungsvolle Anfragen einzugehen. Aber wer etwas über Hypnose wissen will, muss sich mit wissenschaftlichen und medizinischen Aussagen befassen. Sie ist eine medizinische Technik, die auf einem seelischen Grundphänomen beruht.
Der größte Teil unserer Hirnaktivität lässt sich als ein Geflecht verschiedenster Kontroll- und Schutzfunktionen beschreiben, die den für die Funktions-, Orientierungs-, Entscheidungsbereitschaft benötigten Signalen dienen. Mit Vigilanz- oder Bewusstseinszuständen unterhalb der erhöhten Aufmerksamkeit (a-Zustand) ist eine Einengung des Realitätsbezuges und gleichzeitig eine erhöhte Suggestibilität verbunden. Sie sind ebenfalls komplexe, optimierte Erregungsstrukturen, die ihre Funktionen bei Erschöpfung, kindl. Hilflosigkeit und Konflikt- und Grenzsituationen erfüllen. Sie sind mit dem Risiko der Missbrauchbarkeit durch Dritte behaftet, das durch andere Interventionen Dritter kontrolliert werden kann. Suggestion ist in verschiedenen Ausmaßen prinzipiell an allen sozialen Interaktionen beteiligt. Sie ermöglicht Unterwürfigkeit, Realitätsflucht und Fanatismus ebenso wie Gelassenheit, religiöse Hingabe und Leistungssteigerung. Infolge der engen Verflechtung der Bewusstseinsskalen mit sozialen Funktionen ist es leicht, für den normalen Wachzustand typische Schutzfunktionen auszuschalten.
Die wichtigste Qualifikation des Hypnotiseurs besteht nicht in der Herbeiführung eines veränderten Aufmerksamkeitsbereiches, also zum Beispiel der Lösung von Erinnerungsblockaden (Hypermnesie), sensorischen Veränderungen (Analgesie, Anästhesie), Setzung von Suggestionen usw. Das ist leicht, die Auswahl an ausschaltbaren Schutzfunktionen ist groß, die Wirkung spektakulär: von unwillkürlichen Handlungen (Ideomotorik) über Halluzinationen (durch Ausschaltung von Wahrnehmungskorrekturen) bis hin zu Wunder“heilungen“ (von Krankheitsbildern mit Schutzfunktion). Die eigentliche und unabdingbare Qualifikation des Hypnotiseurs besteht vielmehr im versierten und verantwortlichen Umgang mit den genannten deregulierten Zuständen und hierbei besonders mit der Retraumatisierung. Wer nicht weiß, wie notfalls mit einer lebensbedrohlichen Hyperaktivität umzugehen ist, und wer nicht ausschließen kann, dass er einen Rückfall in einen Drogenmissbrauch induziert, sollte die Finger von der Hypnotisiererei lassen. Die gegebenen Beispiele machen deutlich, wie tief und umfassend mit den Mitteln der Hypnose in die seelische und körperliche Gesundheit des Patienten eingegriffen werden kann. Das geht bis zu sichtbaren Hirnveränderungen.
Leider ist damit das Problem noch nicht erfasst. Suggestionsanfälligkeit bedeutet nämlich Missbrauchsanfälligkeit. Jeder, der danach strebt, Macht über andere auszuüben, nutzt dies aus. Jeder, der sich von Geschäftsinteressen leiten lässt, steht in der Versuchung, dies auszunutzen. Das reicht von Kirche und Staat bis zum Versicherungsvertreter und Familienvater (lies Mann und Musil). Solchen Profiteuren der Suggestion ist entsprechend jede Stärkung der Kritikfähigkeit, jede Form der Aufklärung verhasst. Sie haben ein Wort dafür entwickelt. Es heißt „Verunsicherung“. Es entmündigt die Bürger, die ja leider (Achtung, Sarkasmus!) nicht selbst denken können und vor Verunsicherung bewahrt werden müssen. Der Böse ist nicht der Mißbraucher, sondern der Warner.
Wer sich nicht aus Leichtsinn oder purer Verzweiflung für eine Hypnotherapie entscheidet, sondern bewußt und nach Abwägung der Risiken, wird auf die Dauer die besseren Erfahrungen mit der Hypnose machen. Und wer sich diese Mühe gemacht hat, wird auch eher einmal eine Alternative erwägen.