werde, der du bist
Hi Kathrina,
…immer wieder Neues in dir zu entdecken, damit du werden kannst, der du bist.
Wie dieser traditionelle Satz eines Treuversprechens komplett lautet, hat Marcus ja schon zitiert.
Er baut auf einem Zitat des griech. Dichters Pindar (*522 +445 v. Chr.) auf. In den Epinikeia („Siegeroden“, oder auch „Pythische Gesänge“) 2.72 heißt es:
γένοι΄ οίος εσσί μαθών
génoi’ hoíos essí mathón
werde, der du bist, lernend
Bekannt geworden ist der Satz durch die erste deutsche Pindar-Übersetzung von Hölderin. Nietzsche handelt darüber an mehreren Stellen. Die autobiografischen Fragmente „Ecce Homo“ haben den Untertitel „Wie man wird, was man ist“ und in „Die fröhliche Wissenschaft“ (III, 270) steht die Frage:
Was sagt dein Gewissen? - „Du sollst der werden, der du bist“
Der Grundgedanke, der bei Pindar, Plato, Goethe, Hölderlin, Hegel, Schelling, Nietzsche und vielen anderen Philosophen eine herausragende Rolle spielt, wurde hier schon angedeutet: Das „Selbst“ ist identisch mit sich nur „an sich“ (oder „eigentlich“). Es ist darin aber nur eine Grenze, die es permanent zu überschreiten gilt: Das ist das Anders-Werden, Ver-Anderung, die Veränderung, die Ver- oder Entäußerung. Es ist also keine abgeschlossene, statische, feste Größe, sondern „besteht“ in einer permanenten Bewegung des Anderswerdens. Erst durch das Anderswerden wird das Selbst selbst: Es „kommt zu sich“. Diese Bewegung kommt aber idealerweise nie zum Stillstand.
Einen ganz ähnlichen Hintergrund hat der Satz des Mystikers Angelus Silesius:
„Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“
Diese Bewegung der Selbst-Veranderung, für die wir seit Hegel den Begriff der Entwicklung haben, hat zwei „Momente“ (Bewegungsgrößen): Das eine Moment ist das eigene Potential (die „Möglichkeiten“), das zur Verwirklichung (d.h. zur Veräußerung) drängt. Das andere Moment besteht in der Herausforderung durch den Anderen, überhaupt durch die Umgebung, die die Anstöße liefert: Die Wechselwirkung.
Wenn dir dies - zu Recht - paradox vorkommt, dann denk an das Samenkorn, das auch nur „an sich“ der Baum ist, zu dem es erst werden muß. Er wird erst, was er wesentlich ist. Und dazu trägt sowohl sein eigenes Potential bei, als auch die Wechselwirkung („Stoffwechsel“) mit der Umgebung.
Gruß
Metapher