Hallo Frau Kraus,
die Ursache könnten Versagens- oder Leistungsängste sein. Insofern stimme ich Dr. Schmidt-Branden durchaus zu. Man müßte sich aber mit Ihrer Schwester einmal näher darüber unterhalten.
Ich bin zwar kein Freund psychoanalytischer Traumdeutungen, aber falls Sie sie speziell in Bezug auf den Prüfungstraum interessieren sollten, gebe ich hier eine Stelle aus Silberers „Probleme der Mystik und ihrer Symbole“ wieder. Den Abschnitt halte ich - bis auf die Assoziationen zur Sexualität - für beachtenswert.
„Was nun die Prüfungsszene selbst betrifft, bis zu der wir in unserer fortschreitenden Betrachtung der Erzählung vorgedrungen sind, kann ein häufig auftretender Traumtypus zur Interpretation herangezogen werden: der Prüfungstraum. Fast jeder Mensch, der schwierige Examina durchzumachen hatte, erlebt auch noch in späterer Zeit, wo die Mittelschul- oder Hochschulprüfungen längst hinter ihm liegen, quälende Träume, die mit der Angst vor einer Prüfung erfüllt sind. Freud (Trdtg., S. 196 f.) spricht aus, daß derlei Träume vor allem die unauslöschlichen Erinnerungen an die Strafen sind, die wir in der Kindheit für verübte Untaten erlitten haben, und die sich dann an den „Knotenpunkten unserer Studien, an der Dies irae, Dies illa der strengen Prüfungen in unserem Innern wieder geregt haben.“ Nachdem wir aufgehört haben, Schüler zu sein, sind es nicht mehr wie zuerst die Eltern und Erzieher oder später die Lehrer, die unsere Bestrafung besorgen: die unerbittliche Kausalverkettung des Lebens hat unsere weitere Erziehung übernommen, und nun träumen wir von der Matura oder von dem Rigorosum, sooft wir erwarten, daß der Erfolg uns bestrafen werde, weil wir etwas nicht recht gemacht, nicht ordentlich zustande gebracht haben, sooft wir den Druck einer Verantwortung fühlen. Zu beachten ist ferner die Erfahrung Stekels, die auch durch die Praxis anderer Psychanalytiker bestätigt wurde, daß Maturitätsträume recht häufig dann auftreten, wenn eine Probe der sexuellen Leistungsfähigkeit bevorsteht. Der Doppelsinn des Wortes „Matura“ (das ja auch geschlechtliche Reife bedeuten kann) mag dabei als Wortbrücke für die Assoziation mit in Betracht kommen. Im allgemeinen wären also die Prüfungsträume Äußerungen einer Angst, etwas nicht recht zu tun oder nicht recht tun zu können; im besonderen ein Ausdruck der Impotenzbefürchtung. Es muß gleich hier vermerkt werden, daß nicht bloß im ersteren, sondern auch im letzteren Falle die Befürchtung vorzugsweise einer psychischen Hemmung gelten wird“
(aus: Silberer, H. [1914]. Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Heller).
Grüße,
Oliver Walter