Traktat vom unwahrscheinlichen Glück, ein heutiger Deutscher zu sein

„stolz“ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Du kannst dich - so würde ich es formulieren - glücklich schätzen, in Anbetracht dessen, was es im reichen, überglücklichen und fortschrittlichen Mitteleuropa des 3. Jahrtausends eben auch gibt (Geringverdiener, Arbeitslosigkeit, Menschen, die wegen Krankheit oder Behinderung nie am Erwerbsleben teilnehmen konnten, leerstehende Läden und Altersarmut). Das Problem ist nur, wenn wir uns glücklich erst schätzen, sind wir es oft nicht. Wer schätzt, vergleicht, mit anderen, denen es besser oder schlechter geht, mit dem eigenen Befinden vor drei oder acht Jahren. Wer im „flow“ ist, hat weder Anlass noch Zeit zu vergleichen. Und am „flow“, denke ich, mangelt es.

In der Analyse gebe ich FBH recht: Es muss schön gewesen sein, am Wiederaufbau mitzuwirken. Wer den 2. Weltkrieg halbwegs unversehrt überstanden hatte, konnte „sich etwas aufbauen“, wie das heute individuell und kollektiv kaum noch möglich ist.

In meinem eigenen Fachbereich (Bio) würde ich eher noch weiter zurück gehen. Die Kollegen in den vergangenen Jahrhunderten hatten die Möglichkeit, mit ganz einfachen Mitteln bedeutsame Entdeckungen zu machen. Heute sind dafür wahnsinnig teure Laboratorien erforderlich, und dann kommt oft trotzdem nicht viel dabei raus …

… natürlich profitieren wir heute von den Entdeckungen, die damals gemacht wurden (Antibiotika, Nahrungsmittelkonservierung u.s.w.), aber nicht alle wollen nur profitieren …

Um noch mal auf den Titel zu kommen: Glück (gehabt) haben und glücklich sein sind natürlich nicht dasselbe.

FG myrtillus

1 Like

Das ist aus meiner Sicht der strittige Punkt zwischen uns beiden.
Ich gebe dir ja recht, glaube aber, dass diesem individuellen Blickwinkel-Verändern recht enge Grenzen gesetzt sind, weil die kollektiven Deutungs- und Erwartungsmuster einfach sehr wirkmächtig sind.

Gruß
F.

Hi,

Ich denke, es ist eher Erziehung als ein kollektives Einwirken. Es ist ein nach meinem beobachten typisch westdeutsches erleben, dass man etwas tut, weil einen andere dazu zwingen - Mode, Steuern, eigenes Haus, eine bestimmte Automarkt, was man isst oder nicht und wo man hingeht oder nicht. „Das macht man eben so.“ Oder „das macht doch heute keiner mehr.“ Was gehen mich denn die Leute und ihre Meinung an? Ich bin erwachsen und darf tun und lassen, was ich will. Wieso soll ich zweimal im Jahr in Urlaub fahren, einmal Skiurlaub und im Sommer zwei Wochen Mittelmeer, wenn mir keins von beiden gefällt? Weil „man“ das so macht? Was tut denn der böse kollektive drück, wenn du dich ihm widersetzt? Die Leute reden über einen, schütteln den Kopf, weil sie einen nicht verstehen. Ja und? Ich bin nicht für das Glück und die Zufriedenheit von jemand anderem zuständig. Nur für mein eigenes. Und wenn jemand schlecht schlafen will, weil ihm oder ihr meine Haarfarbe oder meine Möbel nicht gefallen, dann ist das grundsätzlich erstmal nicht mein Problem. Und es lebt sich stressfreier so.

Die Franzi

Das tut aber weh!

Wer hindert die Russlanddeutschen daran, zurück zu Putin zu gehen?

Wer hindert Pegida und AfD daran, diesen maroden Staat zu verlassen und ihrem Traum zu folgen?

Dieses pseudowissenschaftliche Rumgejammere, diese argumentativen Luftnummern, die neuerdings beweisen sollen, dass es uns schlecht geht, weil es uns so gut geht.

Ich möchte bloß mal wissen, warum die Kritiker einer offenbar kriminellen und von Juden und der Stasi gesteuerten Kanzlerin nicht mit einer großen Auswanderungswelle begegnet. Was wären wir froh, wenn zum Beispiel Sachsen oder Thüringen sich (wie Katalonien) von Deutschland lossagen würden.

Ich glaube auch nicht, dass man eine Omma, die drei Weltkriege erlebt hat ob ihrer Freiheit beneiden kann.

Mehr Kriege, die Sechzig-Stunden-Woche und Kinderarbeit in Bergwerken wären der individuellen Freiheit förderlich? It´s so romantic!!

In diesem Land kannst ich, auf welchem Gebiet auch immer, im Rahmen der Gesetze ALLES machen. Das ist für so manchen, der aus eigener Sicht aus seinem Leben zu wenig gemacht hat, eine bittere Wahrheit. Zu, denen gehöre ich auch, aber ich laste das nicht der Politik an, nicht der Gesellschaft, nicht dem Kapitalismus. Das laste ich mir selbst an.

Euer Leben ist noch nicht zu Ende, liebe 50-jährigen. Hört auf, Euch in Nostalgie rumzuwälzen! Verlasst das Lotterbett des Hedonismus! Formuliert Eure Ziele und die Wege dorthin! Und dann Leinen los!

Carpe Diem!

Hans-Jürgen Schneider

Ich finde, du machst es dir zu leicht.
Zum einen gehts in dem Thread eigentlich nicht, ob nun der Franz oder der Myrtillus oder ich „rumjammern“, sondern schlicht
a) um den Widerspruch, dass es uns materiell, von den politischen Freiheiten her usw. wahnsinnig gut geht, dennoch massig Antidepressiva, massig Anxiolytika, massig Ritalin, massig Alkohol usw. konsumiert wird, massig psychosomatische Erkrankungen da sind, massig depressive Erkrankungen usw.
Soll ich jetzt zu meiner depressiven Angstpatientin Dinge sagen wie: „Uns heutigen Deutschen gehts doch wahnsinnig gut, also jammer nicht rum!“ oder „Das ist bei dir alles dein rein individuelles Problem und hat mit der Gesellschaft in der du lebst, nichts zu tun“ usw.?

und

b) um die Frage, ob es „uns“ denn tatsächlich „so gut“ geht bzw. ob der Wohlstand, die Sicherheit, das lange Leben, das vergleichsweise gute Gesundheitssystem usw. tatsächlich die Dinge sind, die dafür sorgen, dass es „uns gut geht“. Bzw. gehts darum, auch den Preis dahinter zu sehen. Ich kann nicht verstehen, warum der partout ausgeblendet bleiben soll. Das hat mit Pessismismus weniger zu tun als mit selbstkritischem Realismus.

So wenig ausgewandert wird übrigens nicht:

Ähnlich wie beim Suizid ist natürlich auch das schwerlich als Indikator für irgendwas zu nehmen, weil viel zu vielgestaltig.

Gruß
F.

Hallo F.,

ich gebe Dir Recht.

Um diese Fülle von Antworten nicht zu erweitern, werde ich in einem neuen Beitrag zu Deiner Frage schreiben.

Das dauert noch etwas.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider