Trennung zwischen Hauptschule und Realschule

Die Unterscheidung zwischen Gymnasium und Realschule bzw. Hauptschule leuchtet mir ein.
Nicht jeder möchte bis 18 oder 19 in der Schule sitzen. Früher arbeiten anfangen zu können bzw. eine Ausbildung zu machen ist schliesslich auch ein Vorteil.

Der Grund für die Trennung zwischen Hauptschule und Realschule leuchtet mir jedoch nicht ein. Ob der Schüler ein Jahr früher oder später die Schule verläßt macht doch keinen Unterschied.

Woraus und wann ist eigentlich diese Trennung entstanden?
Wer hat das eingeführt?

Moin,

Woraus und wann ist eigentlich diese Trennung entstanden?

dereinst gab es die Volksschule (bis in die 60er) die meist acht manchmal neun Schuljahre hatten.
Nach einer Reform wurden daraus die Hauptschulen.
Diese Hauptschulen waren (grob gesprochen) Schulen, die für Berufe im Handwerk vorbereiteten. Realschulen (bis in die 60er Mittelschule genannt) sollten Schüler auf Verwaltungs- und Büroberufe vorbereiten, Gymnasien schließlich auf ein Studium.

Gandalf

Hallöle.

Die Unterscheidung zwischen Gymnasium und Realschule
bzw. Hauptschule leuchtet mir ein.

Achso?
Mir leuchtet das nicht ein.
Zumindest nicht nach der 4. Klasse.

Woraus und wann ist eigentlich diese Trennung entstanden?
Wer hat das eingeführt?

Das dreigliedrige Schulsystem ist uralt.

Seine Anfänge reichen in mittelalterliche Zeiten zurück.
Für Adel und Klerus, nicht für das einfache Volk, existierten höhere Lehranstalten: die sogenannten Lyzeen (Sing. Lyzeum) und die Lateinschulen. Die alten Sprachen Latein und Griechisch und der Bibelunterricht vereinnahmten die Schulzeit. „Klosterschulen“ hießen in dem Zusammenhang Lyzeen bzw. Lateinschulen, die zu einem Kloster gehörten und in denen zukünftige Amtsträger der Kirche ausgebildet wurden, nämlich Priester (katholisch = Lyzeum) und Pfarrer (lutheranisch-protestantisch = Lateinschule). In jenen Zeiten des Mittelalters blieb dem einfachen Volk selbst eine grundlegende Bildung in den Kulturtechniken versagt. Gesellschaftlicher Aufstieg war, abgesehen von den Wegen in den Amtsadel oder die Geistlichkeit, unmöglich bzw. reiner Zufall (Vitamin B).

Die Feudalgesellschaft transformierte sich im 18. Jahrhundert in die Ständegesellschaft: Der Merkantilismus brachte den Aufschwung der Manufakturen und die landwirtschaftlichen Gesellschaft entwicklte die handgewerkliche Arbeitsteilung. Der preußische Reformer Wilhelm von Humboldt, seines Zeichens Humanist, strebte dem Ende der Revolutionskriegen 1807 auf eine Erneuerung des Schulwesens. Paradoxerweise sprach er sich in seinen beiden Schulplänen anno 1809 gegen das gegliederte Schulwesen aus, seine Reformen führten jedoch maßgeblich zu dessen Entstehung.
(Dennoch: Wer Humboldt bezüglich des Schulsystems in den Mund nimmt, m u ß eigentlich die Sekundar-Gesamtschule unterstützen.)
Humboldt prägte das Bild der „humanistischen Bildung“ am sogenannten „humanistischen Gymnasium“: Bildung um der Bildung willen, die Schule offen für alle, auf die Elementarschule soll für alle Schüler das Gymnasium folgen, berufliche Bildung keinesfalls ehe das Abitur am Gymnasium abgelegt worden ist.
Für die Hochschulen formulierte er die „Einheit von Forschung und Lehre“, freie Universitäten und tiefschürfende 4jährige bzw. 5jährige, forschende Studienverläufe.

Die machthabenden Kreise handelten:
Spätestens die gewollte Öffnung des Schulwesens für den 3. Stand (Bürgertum, Bauerntum) rief die starken reaktionären Kräfte auf die Matte. Zu der Zeit hatte Humboldt sein Amt als Leiter für „Kultus und öffentlichen Unterricht“ längst verloren, und die Reaktion, in unseren politischen Begrifflichkeiten: CDU+FDP, verkehrte Humboldts Schulplan ins Gegenteil:
Die Beweihräucherung des humanistischen Gymnasiums ist Humboldts kulturtheoretischer Sichtweise geschuldet und beschreibt Bildung als Weg des Menschen in der Gesellschaft. Er postulierte, dafür müsse der Mensch sich mit Philosophie, alten Sprachen, Schönen Künsten und Kulturgeschichte befassen, und zwar einseitig. Keine „Realien“ (Mathematik, Physik, Technik, …).

Die Reaktion hatte es auf diese Weise leicht, das dreigliedrige Schulsystem als Instrument der sozialen Abschottung zu etablieren. Begabungen, Chancengleichheit und Ausgleich minderbemittlter Herkunftsverhältnisse spielten keine Rolle und wurden geflissentlich ignoriert. Die Auslese nach gesellschaftlicher Herkunft und Reichtum war die eigentliche Funktion des dreigliedrigen Schulsystems. Die alten Sprachen Latein und Altgriechisch dienten als „Selektionsrampe“ nach der Elementarschule, weil das einfache Volk kaum Zugang zu altsprachlichen Privatlehrern für die Vorklassen hatte, und weil die systematische Geringschätzung der „realistischen Bildung“ in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik den Auslesemechanismus intensivierten.

Es waren schließlich die Naturwissenschaftler und Techniker, die das starre, dreigliedrige Schulsystem Ende des 19. Jahrhunderts unter Druck setzten: Industrialisierung und die herausragenden wissenschaftlich-technischen Leistungen der Deutschen zwangen die Obrigkeit zu Maßnahmen, die die Durchlässigkeit der Schule erhöhten. Es entstanden Realgymnasien und Oberrealschulen, die wie das grundständige Gymnasium (=humanistisches Gymnasium) zum Reifezeugnis führten und das Studium erlaubten.

In dieser Zeit geriet auch das Humboldtsche Bildungsideal unter Druck: Aus dem Londoner Exil kritisierte ein deutscher Philosoph aus Trier in seinen Schriften die einseitige Sichtweise Humboldts und forderte „polytechnischen Unterricht“ für die Menschen. Es sei klar abzusehen, daß die kapitalistische bürgerliche Gesellschaft in eine dauerhafte Phase des raschen technologischen Fortschritts eintreten werde. Das Bildungssystem könne diesen Prozeß nicht ignorieren, sondern müsse den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht dem geisteswissenschaflichen Unterricht gleichstellen und berufliche Lehrstoffe in den Unterricht einfließen lassen.
Andere Stimmen wurden laut, die das dreigliedrige Schulsystem des Kaiserreichs als veraltete „Paukschule“ analysierten. Die Talente der Schüler würden systematisch ignoriert und unterdrückt, um die Kinder schließlich in die Bahnen von körperlicher Züchtigung und blindem Gehorsam zu pressen.

Aus diesen kritischen Einzelstimmen entwickelte sich zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, als der Erste Weltkrieg das Kaiserreich verschlungen hatte, die Bewegung der Reformpädagogik. Das zentrale Anliegen der unterschiedlichen reformpädagogischen Strömungen war die Abkehr von der reaktionären Schule des Kaiserreichs. Die Alternative sollte die „deutsche Einheitsschule“ sein, die vor allem bei den sozialdemokratischen und sozialistischen Reformpädagogen ein wichtiges politisches Ziel war.
Die Weimarer Republik bewegte sich allerdings bildungspolitisch langsam, weil sie nie die konservativen Strukturen und Seilschaften des Kaiserreichs überwinden konnte. Reformschulen blieben Einzelfälle. Die verschiedenen Reformpädagogen wirkten kaum zusammen, so daß das dreigliedrige Schulsystem unangetastet blieb.
Moderner Lehrstoff und liberales Denken flossen in das öffentliche Schulsystem nur durch die Lehrpläne ein. Die erhoffte geistige Erneuerung fand praktisch ausschließlich an den Universitäten und im Wirkungskreis der Intellektuellen (Kunst und Kultur, Forschung) statt.

Die wichtigsten Modifikationen am gegliederten Schulsystem zu Zeiten der Weimarer Republik:

  • Die Errichtung der verbindlichen 4jährigen Grundschule
  • Die weitere Aufgliederung des ursprünglich dreigliedrigen Schulsystems (Oberschule, Aufbauschule)
  • Die Wortschöpfungen Unterstufe-Mittelstufe-Oberstufe
  • Der Aufwind moderner Fremdsprachen

Unter der faschistischen Diktatur Hitler-Deutschlands wurde das dreigliedrige bzw. in der Oberstufe fünfgliedrige Schulsystem aufrechterhalten und weiter im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie differenziert.

Schon vor Kriegsende beschlossen die Alliierten nach der Befreiung der Deutschen vom Hitlerfaschismus die weitreichende Reorganisation des deutschen Bildungssystems. Die Siegermächte kannten aus dem eigenen Land alle zumindest Gesamtschulsysteme und wollten in ihrer Besatzungszone jeweils ihre Gesamtschulvariante etablieren.

Das scheiterte, besonders im erzkonservativen Süden Deutschlands, schon im Ansatz. Das dreigliedrige Schulsystem, besser: das gegliederte Schulsystem, erfuhr auf dem Territorium der späteren BRD eine vollständige Restauration in die Form, die es zum Ende der Weimarer Republik besaß.
Die Bildungshoheit ging zurück an die Bundesländer, der Lehrstoff wurde grundlegend geisteswissenschaftlich ausgelegt, Fächer wie Mathematik, Physik, Chemie etc. verloren an Bedeutung, die Oberstufe des Gymnasiums wurde in ein Kurssystem überführt, länderübergreifend „koordiniert“ die Kulturministerkonferenz die bundesrepublikanische Bildungspolitik. In den 60er Jahren erfolgte eine Umwandlung der hundert Jahre alten Volksschule in die Hauptschule.

Die zentrale Maschine des gegliederten Schulsystems, die früh einsetzende sozial selektive Dreigliedrigkeit, ist inzwischen mehr als 150 Jahre alt und treibt das deutsche Schulwesen unverändert wie auf Schienen… tja, definitiv nicht in die richtige Richtung.

Viele Grüße

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