Hi Leute ich habe eine große Bitte
Vor kurzem ist mein geliebter Kater „Bärli“ verstorben. Als Andenken an ihn würde ich mir gerne seinen Namen als Tättowierung auf meiner Hand verewigen entweder auf arabisch oder auf häbräisch. Bitte helft mir weiter- Danke schon mal im Vorraus
Hallo,
Dein Wunsch Deinen Kater in Erinnerung zu behalten, in allen Ehren. Aber auch Dir kann ich (wie den vielen anderen Leuten mit ähnlichen Fragen) nur dieselbe Antwort geben: Lass die Finger von Tattoos auf Hebräisch oder Arabisch. Denn zum einen bräuchtest Du dazu einen Tättowierer, der sich ansatzweise mit hebräischer bzw. arabischer Kalligraphie auskennt. Ansonsten hätte der Schriftzug die Ästhetik einer Bild-Schlagzeile.
Zudem, und das ist der viel wichtigere Grund: Tattoos und ähnlicher Hautschmuck sind in Judentum und Islam ein absolutes Tabu. Im Archiv findest Du unzählige Threads dazu, in denen kundige Leute das Für und (besonders das) Wider solcher Tattoos erläutern. Ein wahllos rausgegriffenes Beispiel, das ich mal geschrieben habe: /t/sandy-auf-hebraeisch/5619338
Hinzu käme in Deinem Fall ein weiterer Aspekt: Ohne allzu sehr verallgemeinern zu wollen: Die meisten Araber/Muslime, die ich kennen gelernt habe, können die Tierliebe, wie sie z.B. in Deutschland herrscht, nicht unbedingt nachvollziehen. Also könnte ein Tattoo, das an ein verstorbenes Tier erinnert, noch größere Verwunderung oder (im schlimmsten Fall) Abneigung auslösen als der Schriftzug im Allgemeinen.
Also der freundliche, aber ernst gemeinte Rat: Überleg Dir lieber eine andere Art, das Andenken an Deinen Kater zu wahren.
Gruß,
Stefan
ich könnts dir ja aufschreiben, aber wie soll ich dir des zeigen?
Hallo Stefan,
deinen ernst gemeinten Rat in allen Ehren, aber: Du verkennst – wie die meisten, die sich in den einschlägigen Threads geäußert haben – die Intention und den kulturellen Kontext dieser Tätowierungen, glaube ich.
Tattoos mit hiesigen Namen in nicht-lateinischer Schrift haben einen intimen und einen expressiven Aspekt: Das Intime spielt insofern eine Rolle, als den Trägern die Vorstellung wichtig ist, den Namen eines geliebten Individuums auf dem Leib zu tragen – wohlgemerkt: die Vorstellung. Ob in der Tat ›Bärli‹ bzw. ›Mutti‹ oder vielmehr ›Leberwurst‹ bzw. etwas Unentzifferbares in die Haut gestochen wird, spielt meist eine nach meinem Eindruck sekundäre Rolle. Es geht darum, dass das Tattoo im Gedanken bzw. zum Gedenken an den anderen entstanden ist. Dass sich alle Träger eines solchen Schriftzugs dementsprechend äußern würden, bezweifle ich, aber was sie nicht wissen und herauszufinden sich nicht allzu intensiv bemühen, macht sie erfahrungsgemäß nicht heiß. Das expressive Moment zielt darauf, im Freundeskreis dadurch zu beeindrucken, dass der gewünschte Name dekorativ und ›ungewöhnlich‹ umgesetzt wurde. Diese Freunde sind meist keine Sprecher und Schreiber des Arabischen, Hebräischen, Griechischen; sonst könnten sie ja um Transkription gebeten werden anstelle der Mitglieder eines Forums. Die Tattoos zielen also auf Leute, denen bereits das Äquivalent von ›Arial‹ und ›Times New Roman‹ in den entsprechenden Schriften arkan und interessant erscheint.
Denn zum einen bräuchtest Du dazu einen Tättowierer, der sich
ansatzweise mit hebräischer bzw. arabischer Kalligraphie auskennt.
Warum? Die Rezipienten des Schriftzugs sind keine Kenner dieser Schriften bzw. ihren kalligrafischen Tradition. Es geht hierbei um einen ganz naiven Exotismus, den ich denjenigen, die sich daran erfreuen, auszutreiben mich nicht berufen fühle – du etwa? Es gilt zu bedenken, dass die fremden Zeichen auf der Haut nicht mehr dasselbe bedeuten wie für einen muttersprachlichen Leser; sie tragen (nicht nur emotional, sondern auch inhaltlich) die Aussage, die derjenige, der die Tätowierung hat, ihnen zuweist. Wenn da nun aufgrund einer Nachlässigkeit des Tätowierers ›Brflk‹ statt ›Bärli‹ steht, ist das im Grunde nicht weiter von Belang. Wenn der Tätowierte sagt, auf seinem Schulterblatt stehe ›Bärli‹, und daran glaubt, dann steht da ›Bärli‹, weil der Schriftzug in Erinnerung an ›Bärli‹ entstand und weil da ›Bärli‹ stehen sollte. Das Gleiche gilt für die Wahl der Schriftart: Wenn der Betrachter sie schön und fremdländisch findet, dann ist sie es gewissermaßen.
Tattoos und ähnlicher Hautschmuck sind in Judentum und Islam ein absolutes Tabu.
Ja, aber Muslime haben nicht die arabische Schrift für sich gepachtet, Christen nicht die lateinische (oder irgendeine andere); auch gehört das hebräische Alphabet nicht den Juden allein. Diejenigen, die sich den Namen ihres verstorbenen Hamsters in die linke Pobacke ritzen lassen wollen, dürften keiner der von dir genannten Religionen angehören oder wären andernfalls wohl mit deren Ge- und Verboten vertraut. Es scheint auch nicht, als bewegten sie sich in einer stark von Anhängern dieser Glaubensrichtungen geprägten Umgebung, die auf eine Tätowierung womöglich negativ reagieren würde. Insofern sind deine Hinweise zwar interessant, aber irrelevant. Ich erwarte auch nicht, dass ein gläubiger Muslim oder Jude den Vorschriften des Christentums folgt, und gehe davon aus, dass er in seinem Verhalten selbst gut genug weiß, was seine Kultur und Religion gestatten. Das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen.
Die meisten Araber/Muslime, die ich kennen gelernt habe, können die
Tierliebe, wie sie z.B. in Deutschland herrscht, nicht unbedingt nachvollziehen.
Auch das halte ich in dieser Frage für unbedeutend. Ich kann (stell dir vor!) nicht einmal aus vollem Herzen nachempfinden, warum sich Asiaten bisweilen T-Shirts in hierzulande gewöhnlichen Schriftarten mit vage ans Englische, Französische oder Deutsche anklingenden Nonsens-Wörtern bedrucken lassen – aber ich kann es akzeptieren. Meine Assoziationen sind nicht das entscheidende Bewertungskriterium, wenn diese T-Shirts von einigen Leuten – sogar von asiatischen Studenten in Deutschland, wie ich mit Erstaunen sehe – irgendwie kultig gefunden und gerne getragen werden. Desgleichen bleibt zu hoffen, dass sich Muslime oder Juden über die merkwürdigen Gebräuche hierzulande vielleicht wundern, aber letztlich denken: ›Na ja, wem’s Spaß macht …‹. Sie sind schließlich nicht die Adressaten dieser Botschaft. Genauso wie der zu einer Hochzeit eingeladene Literaturkritiker über unreine Reime und Ungenauigkeiten im Versmaß des vorgetragenen Scherzgedichts gerne den Mantel des gnädigen Schweigens decken darf, solange das Präsentierte die Mehrheit erfreut, ist es nicht unbillig, denke ich, Nachsicht von dem zu erwarten, der erkennen kann, dass die Schrift hässlich ist und der Text ›Brflk‹ lautet.
In summa: Ich halte die Argumente, mit denen du und andere vor Tätowierungen in nicht-lateinischer Schrift warnen, vor dem Hintergrund der Zielsetzung, die dieser Körperschmuck verfolgt, für nicht stichhaltig. Sie tragen lediglich dazu bei, Leute an etwas zu hindern, das ihnen andernfalls Freude machen würde, ohne vor tatsächlichen Unbilden zu bewahren: Die Tätowierten verstoßen nicht unwissentlich gegen Gebote ihrer Religion und es wird ihnen innerhalb ihres Umfeldes in Deutschland mutmaßlicher kein sozialer Schaden durch das Tattoo entstehen. Ich kann verstehen, wenn man diesen Leuten aus persönlichen Gründen dennoch keine Übersetzungsdienste anbieten möchte, aber ich finde es nicht gerechtfertigt, ihnen von ihrem Vorhaben abzuraten.
Gruß
Christopher
Hallo Christopher,
zunächst einmal Respekt! So ausführliche schon fast philosophische Abhandlungen findet man hier nicht oft im Forum. Im Großen und Ganzen kann ich Deine Argumentation als Literaturwissenschaftler nachvollziehen. Habe das ja auch mal studiert und kenne die Geschichte mit dem Reiz des Exotischen. Aber dennoch bist es meiner Meinung nach Du, der den kulturellen Kontext der Tattoogeschichte verkennt.
Der Tenor Deiner Argumentation (in verkürzter und etwas zugespitzter Form) lautet ja: „Das Tattoo ist ja eh nur für mich und ich lass es mir stechen, egal was irgendjemand, irgendeine Kultur oder Religion oder sonst wer dazu sagt. Weil weder ich noch sonst jemand aus meinem Freundeskreis in irgendeiner Form der entsprechenden Sprache/Schrift mächtig ist, ist es mir auch vollkommen egal, ob sich der Tättowierer bei einem Zeichen vertan hat oder es für einen Schriftkundigen unästhetisch aussieht.“ (also aus Sicht eines Tättowierwilligen, nicht aus Deiner)
Im Grunde genommen wäre daran nichts wirklich Verwerfliches. Aber eine solche Einstellung – und die klang in der Form bei Vielen durch, die sich was Arabisches oder Hebräisches stechen lassen wollten – verkennt bzw. missachtet die grundlegendsten Regeln des Respekts vor anderen Kulturen und Ländern. Das Reiz-des-Exotischen-Argument kann ich ja grundlegend nachvollziehen. Aber der Punkt ist der: Heutzutage muss man sich da auch an gewisse Grenzen halten. Früher konnte ein Montesquieu oder Voltaire die interessantesten Dinge über ferne Länder erzählen, da der Durchschnittsmitteleuropäer mit diesen Gegenden nie in Berührung gekommen ist. Da hätte man sich theoretisch auch sonst noch was in die Haut stechen lassen können. Aber heute leben wir nun mal in einer globalisierten Welt, in der Millionen des Arabischen mächtige Menschen in Europa leben – von den Hebräisch-lesen-könnenden Juden, die seit Jahrhunderten hier leb(t)en, einmal ganz abgesehen.
Und wenn man weiß, dass der Großteil ebendieser Menschen, die ja mit wenigen Ausnahmen die einzigen sind, die diese Schrift lesen können, solche Tattoos als Affront empfinden, halte ich es schlicht und ergreifend für fahrlässig bis provokant, sich ein Tattoo in hebräischen oder arabischen Buchstaben stechen zu lassen. Gegen indische, chinesische, japanische, koreanische oder wegen mir klingonische Schriftzüge hätte ich ja nichts einzuwenden. Aber, und da muss ich Dich korrigieren: Deine Aussage, dass das Judentum und Islam nicht die hebräische bzw. arabische Schrift gepachtet haben, zeugt leider von einem mangelnden Wissen über bzw. Einfühlungsvermögen für diese Kulturen. Denn die hebräische Schrift wird nur für solche Sprachen benutzt, deren Muttersprachler (fast) ausschließlich Juden sind. Sicherlich variiert unter denen der Grad der Religiösität. Dennoch hat die hebräische Sprache (und mit ihr die Schrift) auch heute noch (trotz ihrer „Profanisierung“ durch die Verwendung als Alltagssprache) nach wie vor einen besonderen symbolischen bis religiösen Charakter inne, der nicht mit dem profanen Verhältnis der Europäer zu ihrer lateinischen Schrift vergleichbar ist. Ähnliches gilt für das Arabische. Sicher ist nicht jeder Araber (bzw. Perser, Kurde, Pakistani, Uigure usw.) strenger Moslem. Aber auch hier darfst Du nicht vergessen, dass es Koran und Islam waren, die maßgeblich zu Entwicklung und Verbreitung der Schrift beigetragen haben, und mit denen sie fast immer assoziiert wird. Kultur/Religion auf der einen und Sprache/Schrift auf der anderen Seite so einfach mit einem Lineal zu trennen, wie man das in Europa tun kann, funktioniert in diesen Fällen schlicht und ergreifend nicht.
Und aus ebendiesen Gründen rate ich und raten auch praktisch sonst alle, die sich mit diesen Sprachen und Kulturen auskennen, grundsätzlich von solchen Tattoos ab. Denn warum muss man sich denn gerade eine Schrift aussuchen, zu der man keinen persönlichen Bezug hat und von der man weiß, dass das Tattoo von vielen Menschen als Affront empfunden werden könnte? Was bringt meine Faszination für die arabische/hebräische Schrift, wenn ich gleichzeitig für die dazugehörige Kultur und ihre Regeln ganz offensichtlich keinen Respekt habe? Es tut mir leid, aber eine solche „Ist mir doch egal, was die denken. Ich bin Europäer und kann machen, was ich will.“-Mentalität* grenzt für mich an Sturheit, die die kulturelle Wirklichkeit verkennt und bisweilen an die Polemik von Jyllands-Posten, Pro-Köln und Co. erinnert…
Gruß,
Stefan
*wiederum nicht Deinerseits, sondern seitens derer, die sich unbedingt allen gut gemeinten Ratschlägen zum Trotz so etwas tättowieren lassen wollen
Hallo Stefan,
vielen Dank für deine Antwort! Lass mich dazu noch das eine oder andere anmerken:
Deine Aussage, dass das Judentum und Islam nicht die hebräische bzw.
arabische Schrift gepachtet haben, zeugt leider von einem mangelnden
Wissen über bzw. Einfühlungsvermögen für diese Kulturen.
Mir ist der vor allem historisch enge Zusammenhang zwischen dem Hebräischen bzw. Arabischen und den religiösen Schriften des Judentums bzw. des Islams bewusst. Die Entstehung und Verbreitung des lateinischen Alphabets ist ohne Zweifel in anderen Bahnen verlaufen, weshalb ganz unterschiedliche Formen und Grade der Sensibilität entstanden sind. Es ist gewiss gut, diese zu kennen, weshalb ich deine Hinweise zum Thema Tätowierungen für interessant halte. Ich bin nur im Zweifel, ob die Konsequenz, die du empfiehlst, also der kategorische Verzicht auf Tattoos in den genannten Schriften, die richtige und zwingende ist.
Ich bin der Ansicht, dass beim Zusammenleben unterschiedlicher Menschen ein wichtiges Ziel darin liegen sollte, dass der Einzelne möglichst große Handlungsfreiheit genießt. Es ist kaum möglich, dabei zu verhindern, dass andere beeinträchtigt werden, aber man kann versuchen, die Störungen auf ein Minimum zu begrenzen und das Prinzip attraktiv zu machen, indem niemand dauerhaft auf der Seite derer stehen muss, die die Auswüchse der Freiheit anderer zu erdulden haben. Dadurch, dass jeder auch zu denen gehören kann, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen, entsteht im Idealfall eine Balance von Nutzen und Schaden. Diesem Prinzip folgend ist es etwa vonseiten christlich oder areligiös geprägter Europäer geboten, den Bemühungen von Angehörigen anderer Kulturen oder Religionen, sich ein Umfeld zu schaffen, in dem ihre Gewohnheiten und Sitten gedeihen können, Verständnis und ggf. Unterstützung entgegenzubringen. Wenn in einer Stadt ein hoher Bevölkerungsanteil an, sagen wir, Muslimen lebt, ist es meiner Ansicht nach nicht einzusehen, dass Gläubige keine adäquate Anzahl an erreichbaren Gotteshäusern vorfinden, auch wenn deren Bau das architektonische Empfinden mancher verletzt. Von denjenigen, die von diesem Entgegenkommen zu Recht profitieren, erwarte ich im Gegenzug, dass sie ebenfalls Mäßigung und Toleranz walten lassen, wenn eine andere Gruppe sich in einer Weise verhält, die mit den Geboten der eigenen Kultur unvereinbar wäre. Das ist der Fall, wenn ein Jude jeden Tag Leuten mit Tattoos in hebräischer Schrift begegnet – ein Fall, in dem ich die Irritation so sehr verstehen kann wie die von Nachbarn in spe einer Moschee, aber nicht weniger überzeugt auf Duldung, und sei’s zähneknirschende, dringe und hoffe.
Was bringt meine Faszination für die arabische/hebräische Schrift
wenn ich gleichzeitig für die dazugehörige Kultur und ihre Regeln
ganz offensichtlich keinen Respekt habe?
Auch wenn ich um den kulturellen Kontext weiß, in den der Gebrauch der jeweiligen Sprache und Schrift üblicherweise eingebettet ist, kann ich die entsprechenden Zeichen unter typografisch-künstlerischen Gesichtspunkten schön finden, und es kann, eben im hiesigen kulturellen Kontext, die Idee entstehen, die Schrift in einem profanen Zusammenhang zu nutzen – wie barbarisch das Kundigen auch erscheint. Jemandem, der so denkt, mag selbst die arabische ›Times New Roman‹ und die hebräische ›Arial‹ als ornamentale Offenbarung erscheinen. Ich nehme diese Denkweise nicht für mich in Anspruch, finde sie aber nicht grundsätzlich weniger nachvollziehbar als das Unverständnis, die Empörung von der anderen Seite. Eine naive Faszination für eine bestimmte fremde Schrift wird wohl als weniger tiefe Empfindung denn ein religiöses Gefühl erscheinen, aber ich halte es für unklug, die eine gegen das andere auszuspielen.
Die Ablehnung von Tätowierungen durch religiöse Juden und Muslime ist, im historischen und kulturellen Zusammenhang gesehen, ebenso folgerichtig und plausibel wie die weitgehende Toleranz bzw. Indifferenz gegenüber Körpermodifikationen, die unter vielen nicht-jüdischen und nicht-muslimischen Europäern herrscht. Dem Prinzip, das ich oben angedeutet habe, ist auch implizit, dass es beiden Seiten abverlangt, der anderen zuzugestehen, dass sie ihre Position mit einer gewissen Berechtigung vertritt – ohne deshalb darauf verzichten zu müssen, auch mal verstört zurückzubleiben oder einen anderen Weg einzuschlagen. Man könnte das als eine Art ›Agree to Differ‹-Vereinbarung bezeichnen, die nicht zuletzt Interesse an der Gegenseite und Wissen um deren Denken voraussetzt. Verletzt wird dieses Prinzip zweifellos durch Handlungen, die man als Provokation und Feindseligkeit coram publico interpretieren kann oder muss; du hast Beispiele genannt. Als solche sehe ich ein Tattoo, oft an eher diskreter Stelle angebracht und nur im privaten Rahmen vorgezeigt, jedoch nicht. Es ist vielmehr ein Beispiel für die kleinen, aber zahlreichen Zumutungen, wie sie das Zusammentreffen von Kulturen – neben dem Gewinn an vielem – für beide Seiten mit sich bringen kann und denen man, meiner Meinung nach, zu allererst gelassen begegnen sollte. Von beiden Seiten, auch wenn’s schwerfällt.
Gruß
Christopher
Hallo Christopher,
Ich bin nur im Zweifel,
ob die Konsequenz, die du empfiehlst, also der kategorische
Verzicht auf Tattoos in den genannten Schriften, die richtige
und zwingende ist.
Nun, zur Klärung dieses Sachverhalts wäre das Brett Religionswissenschaften zu empfehlen wenn es nicht schon reichlich Artikel dazu im Archiv gäbe.
Ich bin der Ansicht, dass beim Zusammenleben unterschiedlicher
Menschen ein wichtiges Ziel darin liegen sollte, dass der
Einzelne möglichst große Handlungsfreiheit genießt.
Da wäre dann die Rückfrage, wie Du das mit dem Respekt vor den Traditionen und Befindlichkeiten anderer siehst.
Abgesehen davon kann man sich mit der Tätowierung von Hunde- und Katzennamen o.ä. auch zum Affen machen - je nachdem, was dann die Kombination der entsprechenden hebräischen Zeichen bedeutet. Wir hatten erst vor ein paar Wochen ein hübsches Beispiel in einem der Foren hier.
Es ist
kaum möglich, dabei zu verhindern, dass andere beeinträchtigt
werden, aber man kann versuchen, die Störungen auf ein Minimum
zu begrenzen und das Prinzip attraktiv zu machen, indem
niemand dauerhaft auf der Seite derer stehen muss, die die
Auswüchse der Freiheit anderer zu erdulden haben.
Was heißt das denn ganz konkret für dich in diesem Fall.
Das Judentum lehnt Tätowierungen ab, weil es eine Form der Beschädigung des Körpers ist. Von Juden würdest Du also keine Auskünfte darüber bekommen, wie das Schriftbild dieses Namens ist.
Holst Du Dir die Info dann über eine andere Schiene?
Dadurch,
dass jeder auch zu denen gehören kann, die von ihrer Freiheit
Gebrauch machen, entsteht im Idealfall eine Balance von Nutzen
und Schaden.
Und wie würde die im konkreten Fall aussehen?
Ich phantasiere mal und unterstelle, daß Du vielleicht katholisch bist. Wenn wir also eine Balance von Nutzen und Schaden herbeiführen wollen, dann würde ich als Jüdin in der katholischen Kirche am Weihwasserbecken eine Wasserschlacht veranstalten?
Diesem Prinzip folgend ist es etwa vonseiten
christlich oder areligiös geprägter Europäer geboten, den
Bemühungen von Angehörigen anderer Kulturen oder Religionen,
sich ein Umfeld zu schaffen, in dem ihre Gewohnheiten und
Sitten gedeihen können, Verständnis und ggf. Unterstützung
entgegenzubringen.
Wie großzügig vom christlich oder areligiösen geprägte Europäer.
Nur der lebt bei dieser Gesinnung seine Dominanzansprüche aus, die heißen, dass seine Weltsicht absolut zu setzen ist.
Denn der christlich oder areligiös geprägte Europäer zieht dabei nicht in Betracht, daß er Religion „privatisiert“ und andere Traditionen diese ihm selbstverständliche Trennung so nicht kennen und praktizieren. Der christlich oder areligiöse Europäer würde also möglicherweise beim Besuch einer Moschee oder Synagoge die Tätowierung unsichtbar machen und für den öffentlichen Bereich davon ausgehen, dass seine Sicht der Trennung zu gelten habe.
Wenn in einer Stadt ein hoher
Bevölkerungsanteil an, sagen wir, Muslimen lebt, ist es meiner
Ansicht nach nicht einzusehen, dass Gläubige keine adäquate
Anzahl an erreichbaren Gotteshäusern vorfinden, auch wenn
deren Bau das architektonische Empfinden mancher verletzt. Von
denjenigen, die von diesem Entgegenkommen zu Recht
profitieren, erwarte ich im Gegenzug, dass sie ebenfalls
Mäßigung und Toleranz walten lassen, wenn eine andere Gruppe
sich in einer Weise verhält, die mit den Geboten der eigenen
Kultur unvereinbar wäre. Das ist der Fall, wenn ein Jude jeden
Tag Leuten mit Tattoos in hebräischer Schrift begegnet – ein
Fall, in dem ich die Irritation so sehr verstehen kann wie die
von Nachbarn in spe einer Moschee, aber nicht weniger
überzeugt auf Duldung, und sei’s zähneknirschende, dringe und
hoffe.
Dieses Beispiel führt nicht weiter, weil der Vergleichspunkt so nicht vorhanden ist. Bei Moscheen geht es um innerreligiöse Praxis und die letzten Jahre haben gezeigt, dass für Moscheenarchitektur sehr unterschiedliche Lösungen gefunden werden konnten.
Was bringt meine Faszination für die arabische/hebräische Schrift
wenn ich gleichzeitig für die dazugehörige Kultur und ihre Regeln
ganz offensichtlich keinen Respekt habe?Auch wenn ich um den kulturellen Kontext weiß, in den der
Gebrauch der jeweiligen Sprache und Schrift üblicherweise
eingebettet ist, kann ich die entsprechenden Zeichen unter
typografisch-künstlerischen Gesichtspunkten schön finden, und
es kann, eben im hiesigen kulturellen Kontext, die Idee
entstehen, die Schrift in einem profanen Zusammenhang zu
nutzen – wie barbarisch das Kundigen auch erscheint. Jemandem,
der so denkt, mag selbst die arabische ›Times New Roman‹ und
die hebräische ›Arial‹ als ornamentale Offenbarung erscheinen.
Ich nehme diese Denkweise nicht für mich in Anspruch, finde
sie aber nicht grundsätzlich weniger nachvollziehbar als das
Unverständnis, die Empörung von der anderen Seite. Eine naive
Faszination für eine bestimmte fremde Schrift wird wohl als
weniger tiefe Empfindung denn ein religiöses Gefühl
erscheinen, aber ich halte es für unklug, die eine gegen das
andere auszuspielen.
Nun, ich kenne viele Künstler - darunter auch solche, die Kaligrafie machen oder aber auch hebräische, religiöse Texte schreiben. Gerade der künstlerische Eigenanspruch führt dazu, daß sie sich mit den kulturellen Kontexten auseinandersetzen und damit respektvoll umgehen.
Die Ablehnung von Tätowierungen durch religiöse Juden und
Du wirst sogar unter säkularen Juden weitgehendes Unbehagen im Hinblick auf Tätowierungen finden - Stichwort Auschwitz.
Muslime ist, im historischen und kulturellen Zusammenhang
gesehen, ebenso folgerichtig und plausibel wie die weitgehende
Toleranz bzw. Indifferenz gegenüber Körpermodifikationen, die
unter vielen nicht-jüdischen und nicht-muslimischen Europäern
herrscht.
Eine Tätowierung ist eben keine Körper modifikation (siehe oben). Von daher ist das Grundverständnis ein anderes.
Ich habe kein Problem damit, wenn Nichtjuden mit Tätowierungen herumlaufen. Ich zucke gelegentlich zusammen, wenn ich mir den „Herstellungsprozeß“ vorstelle. Ich finde es aber geschmacklos und daneben, wenn jemand für seine Tätowierungen zu Symbolen aus meiner Kultur (hebräische Buchstaben) greift und diese funktionalisiert. Und noch mehr daneben finde ich das in Deutschland 60 Jahre nach der Schoah - wenn ich eben die Bilder Überlebender vor mir habe, die sich eben nicht aussuchen konnten, ob sie in Auschwitz die Nummer eintätowiert bekommen haben oder nicht.
Dem Prinzip, das ich oben angedeutet habe, ist auch
implizit, dass es beiden Seiten abverlangt, der anderen
zuzugestehen, dass sie ihre Position mit einer gewissen
Berechtigung vertritt – ohne deshalb darauf verzichten zu
müssen, auch mal verstört zurückzubleiben oder einen anderen
Weg einzuschlagen.
Klingt abstrakt sehr schön. Die Frage ist immer die praktische Umsetzbarkeit in der jeweigen Situation.
Man könnte das als eine Art ›Agree to
Differ‹-Vereinbarung bezeichnen, die nicht zuletzt Interesse
an der Gegenseite und Wissen um deren Denken voraussetzt.
Und dieses Interesse an der Gegenseite und das Wissen um deren Denken fehlt mir gelegentlich, wenn rein aufs Formale bezogen gefragt wird, wie man dies oder jenes mit hebräischen, arabischen oder sonstigen Schriftzeichen zum Ausdruck bringen kann.
Verletzt wird dieses Prinzip zweifellos durch Handlungen, die
man als Provokation und Feindseligkeit coram publico
interpretieren kann oder muss; du hast Beispiele genannt. Als
solche sehe ich ein Tattoo, oft an eher diskreter Stelle
angebracht und nur im privaten Rahmen vorgezeigt, jedoch
nicht.
Wie privat? Ich bin immer davon ausgegangen, daß Tatoos gemacht werden um sie zu zeigen, wobei es Unterschiede geben mag, was auf dem Oberarm zu sehen ist und was in intimeren Körperregionen. Mir fehlt da schlicht die praktische Erfahrung.
Beim Beispiel Tatoo wäre aber in die Diskussion einzubeziehen, dass eben nicht nur das Ergebnis „Tätowierung“, sondern eben auch der Herstellungsprozess an sich aus jüdischer Sicht problematisch ist.
Es ist vielmehr ein Beispiel für die kleinen, aber
zahlreichen Zumutungen, wie sie das Zusammentreffen von
Kulturen – neben dem Gewinn an vielem – für beide Seiten mit
sich bringen kann und denen man, meiner Meinung nach, zu
allererst gelassen begegnen sollte. Von beiden Seiten, auch
wenn’s schwerfällt.
Mir fallen vor allem Formulierungen wie diese schwer, weil sie abstrakt sehr schön, nett und tolerant klingen, was aber wenig über ihre Praxistauglichkeit im konkreten Fall sagt.
Abgesehen gibt es auch unter „Zumutungen“ gewisse Abstufungen. Und gerade das macht es dann im konkreten Fall schwierig.
Viele Grüße
Iris