Hallo Takima,
so etwas wie eine halbwegs einheitliche („gängige“) Orthografie begann sich im 16. Jahrhundert erst zu entwickeln; das steckte da bestenfalls noch in den Kinderschuhen. Eine gewisse normierende Rolle spielte da die publizistische Tätigkeit Martin Luthers ab 1517, dessen Flugschriften und Bibelübersetzung eine beispiellose Verbreitung im deutschsprachigen Raum fanden. Wobei Luther nicht, wie gerne kolportiert, „dem Volk aufs Maul schaute“, sondern schlicht sächsisches Kanzleideutsch schrieb.
Ansonsten gab es zu Luthers Zeiten (und noch lange danach) keine regulierenden Vorgaben, sondern Jeder schrieb so, wie er es für richtig hielt - wobei das Ziel natürlich war, verstanden zu werden. Und das über den engeren Bekanntenkreis hinaus. Die Humanisten hatten den schriftlichen gesellschaftlichen Diskurs, der freilich notwendig auf den Kreis eben von Humanisten begrenzt war und vor allem über handschriftliche Korrespondenz (selbstredend in lateinischer Sprache als lingua franca, die ‚Gelehrtenrepublik‘ der Humanisten war nun einmal eine international angelegte) funktionierte, quasi erfunden. Ein (speziell ‚deutsches‘) Nationalgefühl begann sich gerade erst zu entwickeln - im deutschen Teil des Reichs zu einem guten Teil aus der Opposition zur römischen Kirchenbürokratie (konkret Papst und Kurie) heraus, die ihren Ausdruck in den immer wieder auf den Reichstagen diskutierten ‚gravamina nationis germanicae‘ fanden.
Das von den Humanisten angestoßene Paradigma eines öffentlichen Diskurses wurde jedenfalls in seiner popularisierten Form - d.h. in deutscher Sprache und massenhaft verbreitet durch den Buchdruck (eine Industrie, die im frühen 16. Jahrhundert geradezu explodierte) - zum Auslöser einer allmählichen Regulierung von Sprache (in Form einer ‚Hochsprache‘, die vor allem für eine möglichst große Zahl von Adressaten hinreichend verständlich sein musste) und in Form einer standardisierten Orthographie bis hin dann zum Projekt Duden. Da sind wir aber dann schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Wie schon geschrieben - im 16. Jahrhundert stand diese Entwicklung noch ganz am Anfang. Natürlich gab es auch schon im 15. Jahrhundert gewisse Vereinheitlichungsbestrebungen insbesondere an den fürstlichen Höfen - die schon angesprochenen Kanzleisprachen. Das waren jedoch immer allenfalls regionale Entwicklungen, bedingt durch den Ausbau der jeweiligen fürstlichen Verwaltung - eine im 16. Jahrhundert sich noch deutlich verstärkende Tendenz, aber regional (im Reich zumindest) sehr uneinheitlich und vielgestaltig.
Dass die zahllosen orthographischen (und grammatischen) Varianten deutscher Schriftsprache im 16. Jahrhundert in der Regel bestimmt waren durch die lokale Herkunft seines jeweiligen Autors, sollte nicht überraschen. Auch heute soll es ja beispielsweise in Deutschland noch gewisse Landschaften geben, wo man von „Uffrur“ spricht, wenn man „Aufruhr“ meint …
Ansonsten: so schreiben, ‚wie gesprochen wird‘ ist auch nicht immer konsensfähig - gesprochene Sprache in ein System von gerade mal dreißig Lauten (wenn man das heutige Alphabet nimmt) zu ‚übersetzen‘ und mit ebensoviel graphischen Zeichen wiederzugeben, erfordert einiges an Reduktion. Wo man solche Reduktionen nun ansetzt, ist eine Sache individueller Entscheidung - so lange man sich nicht um der Allgemeinverständlichkeit willen freiwillig einer allgemeinverbindlichen Norm unterwirft. Eine solche kam im 16. Jahrhundert gerade erstmals in Sichtweite. Für die Historiker späterer Jahrhunderte, wohlgemerkt, und nicht die Zeitgenossen.
Freundliche Grüße,
Ralf