Hallo Chris,
im Grunde hast Du Deine Frage selbst schon beantwortet: Das Szenario, dass der Iran – so er wirklich an der Bombe bastelt – Israel atomar angreift, ist eigentlich unrealistisch.
Ohne die genauen Reichweiten der Vernichtung nach einem atomaren Angriff zu kennen, könnte man Israel in verschiedene Zielgebiete einteilen:
West-Jerusalem und Umgebung stünden außer Diskussion, weil das Risiko, muslimische Heiligtümer in Mitleidenschaft zu ziehen, zu groß wäre. Zudem liegen mit Ost-Jerusalem, Ramallah und Bethlehem drei wichtige Palästinenserstädte in unmittelbarer Umgebung.
Galiläa und der Norden bzw. Negev und der Süden wären „unattraktive“ Ziele, weil sie nicht so dicht besiedelt, wirtschaftlich und symbolisch uninteressanter sind und dort auch der Anteil der arabischen Bevölkerung größer ist.
Bliebe noch das Zentrum mit der Metropolregion Tel Aviv. Diese Gegend wäre wohl das wahrscheinlichste Ziel (größte Bevölkerungsdichte, wirtschaftlich und symbolisch wichtig). Aber auch hier sind die arabisch bevölkerten Gegenden innerhalb Israels bzw. auf palästinensischer Seite ziemlich nah.
Auch aus ideologischer Sicht wäre eine Atombombe auf Israel so ziemlich das Dämlichste, was der Iran tun könnte. Klar, man könnte (möglicherweise) mit einem Schlag knapp die Hälfte der jüdisch-israelischen Bevölkerung vernichten. Aber welchen Sinn hätte eine solche Aktion, wenn dafür das „befreite“ Land auf Jahrzehnte/Jahrhunderte unbewohnbar wäre, sodass die Chancen der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr noch unwahrscheinlicher würden?
Zudem können sich wohl auch die fundamentalistischsten Entscheidungsträger in Teheran die Konsequenzen eines solchen Angriffs auf Israel ausrechnen. Und die sähen sicher nicht rosig aus.
Letzten Endes ist das Szenario ein Gedankenspiel, das zwar unrealistisch ist, den Propagandisten auf beiden Seiten aber gut in den Kram passt: Die iranische Führung kann mit den Gerüchten um seinen Status als künftige Atommacht ihren Rückhalt in der eigenen Bevölkerung stärken und ihren Anspruch als Regionalmacht unterstreichen.
Noch besser passt die potentielle Bedrohung in die Gedankenwelt der israelischen Rechten. Denn durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts reagiert die (jüdisch-)israelische Bevölkerung immer sehr speziell (für unser Verständnis irrational) auf potentielle Bedrohungen von außen. Somit passt ein solch apokalyptisches Szenario natürlich bestens ins Wahlprogramm von Netanyahu und Co. – speziell wenn man von innenpolitischen Themen wie der desaströsen Sozialpolitik ablenken muss.
Gruß,
Stefan