mein Vater kam Ende 1945 aus der Kriegsgefangenschaft
zurück. Ich war damals 2 Jahre und 10 Monate alt, hattte ihn nie zuvor gesehen
und soll ihn deshalb zunächst mit „Onkel“ angeredet haben. Ich kann mich daran aber absolut nicht erinnern.
Ab welchem Alter setzt denn das Erinnerungsvermögen ein?
Wenn man sich an Dinge aus dem dritten Lebensjahr überhaupt nicht erinnert,
könnte ja z. B.die seit zehn Jahren vermisste Maddie McCann, wenn sie von einem
Paar, das keine Kinder bekommen kann, angenommen und aufgezogen worden wäre, gar nicht wissen, dass sie einmal andere Eltern hatte.
2 Jahre 10 Monate ist knapp an der Erinnerungsgrenze. Einen völlig festen Zeitpunkt gibts nicht. Das ist individuell und auch ein breiter, fließender Übergang, kein trenngenauer Übersprung.
Nur by the way.
Eine gewisse Form der Erinnerung an ganz frühe Dinge scheint schon möglich. Als unerklärliche „Stimmung“ in bestimmten Situationen zum Beispiel, aber nicht episodisch.
Aber das ist nicht der Aspekt Deiner Frage.
Das Mädchen war fast vier. Da sollten Erinnerungsfetzen grundsätzlich da (gewesen) sein. Sie könnten aber auf Grund der traumatischen Erfahrungen auch komplett wieder verloren gegangen sein.
Außerdem ist die Erinnerung kein Archivordner mit abgehefteten Seiten, sondern eine fortwährende Jetzt-Konstruktionsleistung. Es gibt gerade um die Erinnerungsgrenze herum einen Bereich, in dem man gar nicht unterscheiden kann zwischen „eigenen Erinnerungen“ und „Erinnerungen, die einem berichtet worden sind“ (z.B. durch Fotos).
Zudem kämen noch die ganzen psychologischen Mechanismen dazu, durch die sich „falsche Erinnerungen“, Deckerinnerungen und sonstnochwas bilden.
Meine erste Erinnerung ist mit 2 Jahren, 9 Monaten.
Interessanterweise ist sie nicht verbunden mit einem besonderen Gefühl ausser unendlicher Langeweile Prinzipiell ist das also möglich. Aber aus dem Alter hat man dann eben nur sehr punktuell Erinnerungen.
Erinnerungen „brennen“ sich (nur dann) in unser Gehirn, wenn sie intensiv waren und oder wir sie immer wieder abrufen. So wie sich eine Spur im Matsch auch nur erhält, wenn sie tief ist oder oft nachgefahren wird.
Ein 2 Jährige kann kaum beurteilen, was so wichtig ist, dass man es immer wieder wiederholen muss.
Das mit dem Wiederholen funktioniert auch andersrum. Wenn man ein Kind (auch deutlich älter als 4) immer wieder suggestiv befragt, kann man ihm jede Erinnerung einpflanzen. So a la
heute: Du bist ja mal im Ballon geflogen, kannst Du Dich noch erinnern?
morgen: Im Ballon, hast Du da die grüne Hose angehabt:
und übermorgen wird es auf die Frage nach dem Ausblick schon fantasieren ohne es zu wissen.
Nun, bei mir war es ja umgekehrt. Man hat mir ja erzählt, dass ich meinen Vater anfangs mit „Onkel“ angeredet habe, sonst wüsste ich es ja gar nicht. Man hat es auch öfter in meiner Anwesenheit Freunden oder Bekannten erzählt, aber ich erinnere mich trotzdem absolut nicht daran.
Meine ersten Erinnerungen setzen mit ca 2.5 Jahren ein …an Strassenzüge - Erlebnisse im Kindergarten (Strafen, Schlafsaal) - Treppenhäuser - Mahlzeiten bei Nachbarn - Schläge - Streits mit Mutter - das Kinderzimmer und so - also einzelne Episoden
Es ist sicher mit 2.5 gewesen, weil wir von dort weggezogen sind als ich 2.75 war und wir auch nie wieder dort waren
War bei mir (Jahrgang 1944) genauso und ich war nach der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft schon 3 Jahre. Ich glaube, dass die Mütter damals sehr zögerlich gegenüber den Kindern waren, vom Papa zu reden und dass dieser bald zurück kommt. Das Risiko Erwartungen zu wecken und dann kommt er doch nicht, war zu groß. Auch die Mütter stellten sich ja selbst diese Frage.
Udo Becker
Man urteilt doch nicht, bevor sich etwas bei einem in die Erinnerung einbrennt.
Es sind doch die Dinge, die einen besonders beeindrucken, und zwar unabhängig davon, ob ‚die‘ Erwachsenen es als wichtig oder unwichtig beurteilen.
Da wird aber keine Erinnerung eingepflanzt. Das Kind wird auch nicht unbedingt phantasieren.
Vermutlich wird es zwar glauben, es sei im Ballon geflogen, wenn die Eltern dies behaupten, es wird aber möglicherweise völlig verwirrt sein, eben weil es sich nicht erinnern kann. Was bei 4-jährigen dann passiert, wenn denen öfters sowas eingeredet wird, weiß ich nicht, aber wenn das Kind älter ist, wird es vielleicht seinen eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen.
Auf jeden Fall wird man nicht das selbe Ergebnis haben, wie wenn ein Kind wirklich im Ballon geflogen ist.
An so was erinnert sich auch ein vierjähriges Kind, besonders wenn es angeblich gestern im Ballon geflogen sein soll.
Nur, was das Kind dann in 20 Jahren von so einem Ereignis noch weiß, das hängt sicherlich davon ab, was die Erwachsenen oder andere Kinder drumherum im Laufe der Zeit darüber sagen oder nicht sagen.
Wenn ein zweijähriges etwas sehr beeindruckendes erlebt UND es regelmäßig repetiert wird, dann wird es sich auch später daran erinnern.
Wenn es nur wiederholt wird, ohne erlebten Kern (z.B. eine Ballonfahrt im vorletzten Jahr), dann brennt es sich genauso ein. Es gibt kein „richtiges“ Erinnern.
Was anderes ist es, wenn es ums Verdrängen geht, das ist eine ganz andere (dunkle) Baustelle. Aber ein Erlebnis sicher ausschließen ist halt schwer, wenn es nicht gerade so blöd gemacht wird wie in Deinem Beispiel
besonders wenn es angeblich gestern im Ballon geflogen sein soll.
Wenn gewisse physikalische Voraussetzungen geschaffen sind.
Zur Beantwortung deiner vermutlich eigentlichen Frage, von welcher Güte oder Qualität Erinnerung ist, ob und wann sie überhaupt einsetzt, scheint mir Psychologie weniger geeignet, weil sie vorwiegend materiell-naturwissenschaftlich und statistisch, auf physikalische Voraussetzungen basierend und daher etwas einseitig ausgerichtet ist.
Ich finde diesen übergeordneten Ansatz beachtenswert:
Selbst im Erwachsenenalter unterscheidet das Gehirn nicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit, wenn es um sogenannte Engramme = assoziative synaptische Verknüpfungen geht.
Sich wiederholende Verknüpfungen werden automatisch hergestellt und sogar widersprüchliche Aussagen werden zu einem sinngebendem Ganzen verbunden, solange die Kognition kein eindeutiges Veto einlegen kann.
Dabei ist deinem Gehirn völlig egal, ob das so stimmt.
Jede Assoziationsbrücke, egal ob wahr oder unwahr, wird im Gehirn eine solche Encodierung hinterlassen, und sie kann zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt neu entstehen weil das Gedächtnis sich ständig neu- und reorganisiert.
Die Unterscheidung von Phantasie und Wahrheit, von richtig und falsch wird durch unsere Kognition und unser Metagedächtnis (Plausibilitätsprüfung) getroffen.
Die Entwicklung entsprechender Bereiche unserer kognitiven Fähigkeiten und des Langzeitgedächtnisses, wie Hippocampus und Frontallappen, setzt erst ca. ab dem 9. Monat ein. (deshalb beginnen Kleinkinder zu fremdeln, bedingt durch ein beginnendes Langzeitgedächtnis bei noch fehlender Objektkonstanz = dem Wissen dass die Mutter weiter existiert, auch wenn sie aus dem Sichtfeld verschwindet)
Ein biografisches Gedächtnis, das noch im Erwachsenenalter in irgend einer Form bildlich oder episodisch reproduzierbar wäre, gibt es bis durchschnittlich
3 1/2 Jahren überhaupt nicht (frühestens 2+), weil die Gehirnstruktur dafür nicht vorhanden ist…
Im Alter von 2 Jahren besitzen Kinder normalerweise ein Langzeitgedächtnis über die Dauer von etwa einem Jahr.
Wir bewerten das Vergessen ja eher negativ, dabei wird übersehen, dass es ein wichtiger Wegbereiter für die Synaptogenese, für die Entstehung neuer Neuronen und deren Verbindungen, sowie das Lernen ist.
Die Gehirnentwicklung des Kleinkindes ist begleitet von einer Vielzahl von Neuronenuntergängen, und zwar genauso vieler, wie das Gehirn wächst und neue bildet.
Wobei Verknüpfungen, die für die spätere kognitive Entwicklung nicht mehr gebraucht werden oder hinderlich sind, komplett gelöscht werden.
Übrigens findet bei jeder erneuten Aktivierung der Erinnerung eine Reorganisation, und auch ein Vergessen statt (abrufinduziertes Vergessen), und jeder Einfluss zum Zeitpunkt der Aktivierung führt auch zu einer Veränderung der Erinnerungsstruktur. (Deshalb auch der Grundsatz beim Fallen von Motorrad oder Pferd: gleich wieder aufsteigen oder noch wirksamer, wieder runterfallen und sich nicht wehtun)
Erzählungen und selbst erlebtes, sowie sämtliche Eindrücke und Assoziationen die mit einem Ereignis verbunden werden, können in das vermeintliche Gedächtnis assimiliert werden.
Das Einpflanzen falscher Erinnerungen gelingt auch noch im Erwachsenenalter, je länger ein Ereignis zurückliegt, desto leichter.
In zahlreichen Gehirnforschungs-Experimenten wurden Erwachsenen unmögliche Erinnerungen an vermeintliche Kindheitserlebnisse erfolgreich suggeriert.
Die Situation, dass weiter zurückliegende gemeinsam erlebte Ereignisse von anderen ganz unterschiedlich geschildert werden, sogar an anderen Orten und Zusammenhängen erinnert werden, kennen die meisten Menschen. Oder auch die Problematik bei Zeugenaussagen weist auf diesen Sachverhalt hin.