Synästhesie, Komposition und Qualia
Hi.
wie interpretiert man ein abstraktes Bild? Wir haben in der Gemeinde ein Glasfenster eines hochgelobten Malers - es sei eine Landschaftsdarstellung - ich finde aber dazu keinen Zugang und sehe nur dunkle Farbkleckse.
Es gibt mehrere Ansätze, deine Frage zu beantworten. Ich wähle einen anderen als Robertaa und Helena und halte es mit Jean Piaget, dem zufolge man etwas am besten verstehen kann, wenn man weiß, wie es entstanden ist.
Entstanden ist die abstrakte Malerei als Folge von synästhetischen Visionen des Russen Wassily Kandinsky. Er hatte während einer Lohengrin-Aufführung Farb-Visionen, die ihn dazu anregten, ungegenständliche Bilder zu malen, die nur aus Farben und Formen bestehen.
Andere Maler wie Gustave Moreau und Mikalojus Ciurlionis experimentierten vorher schon in abstrakter Manier, aber Kandinsky machte als erster daraus einen konsequenten Stil auf einem klassisch zu nennenden hohen Niveau.
Impressionismus und Expressionismus waren die entscheidenden Vorstufen der Abstraktion. Bereits dort spielte der Gegenstand nur eine untergeordnete Rolle, der Akzent lag auf formalen Experimenten, beim Impressionismus mit extrovertierter und beim Expressionismus mit introvertierter Ausrichtung.
Abstrakte Visionen als Synästhesie-Effekt deuten darauf hin, dass abstrakte Kunst einem tiefenpsychologischen Bedürfnis entgegenkommt bzw. in einer unbewussten seelischen Tiefenschicht Resonanz auslöst. Das gleiche gilt ja für Musik, worüber sich seltsamerweise keiner wundert, obwohl es doch erstaunlich ist, dass Klänge so starke Wirkung auf das menschliche Gemüt erzielen können. Das Geheimnis liegt in der Art und Weise der Anordnung der Töne - bzw., in der Malerei, der Farben und Formen. Es geht um Komposition, um Strukturierung des Rohmaterials. Aber auch das Rohmaterial (einzelne Komponenten wie z.B. Klavierton oder Farbe Rot oder Kreisform usw.) hat per se einen Effekt auf die Psyche. Durch die harmonische oder disharmonische Anordnung mehrerer Komponenten kommt es zu einer tiefenpsychologisch wirksamen, komplexen Resonanz im Unbewussten des Hörers/Betrachters.
Rot z.B. hat einen sinnlichen, erregenden Effekt, Blau einen beruhigenden, quasi mystischen (wie die Weite des Himmels), Schwarz wirkt bedrohlich und/oder geheimnisvoll, Gelb strahlend und warm usw. Das sind Tasten, auf denen der Maler spielen kann wie auf einem Klavier. Hinzu kommt die Kombinierbarkeit mit Komplentärfarben, also die Bildung von Farbkombinationen, bei denen sich die Komponenten wechselseitig verstärken (z.B. blau-orange, grün-rot). Die Vermischung von Komplementärfarben führt zu einem spannungslosen Grau, was zeigt, dass die Einzel-Farben in einem starken und doch implizit harmonischen Verhältnis zueinander stehen.
Neben den Farben spielen die Formen eine Rolle. Bekannt ist der Goldene Schnitt als Kompositionsmittel, auch die Diagonale hat eine wichtige kompositorische Bedeutung, da sie Dramatik suggeriert. Symmetrie erzeugt Ruhe, Asymmetrie Spannung. Der Goldene Schnitt gilt als ideale Synthese beider Aspekte.
Wie wichtig diese abstrakten Komponenten (von Farbe und Form) sind, zeigt sich bereits in ihrer Anwendung im gegenständlichen Bereich. Sie sind es, die einem gegenständlichen Bild die eigentliche künstlerische Wirkung verleihen - und nicht der Gegenstand.
Die abstrakte Malerei ist nicht anderes als die Anwendung der Erkenntnis, dass der Gegenstand im Gemälde nur ein Vehikel für die Wirkung abstrakter Kompositionsmittel ist. Konsequenterweise wird der Gegenstand also weggelassen (abstrahiert), was der Entfaltung von Farbe und Form uneingeschränkten Raum gibt.
Es gibt verschiedene theoretische Erklärungsansätze für den Reiz, den die Abstraktion auf den Menschen ausübt. Warum haben Farben und ihre Kombinationen eine solche Wirkung? In der „Philosophie des Geistes“ z.B. gibt es den Begriff der „Qualia“. Sie gelten als psychische Qualitäten, in welche die physischen Sinnesreize (z.B. Lichtschwingungen, Luftschwingungen) übersetzt werden. Vereinfacht dargestellt:
Luftschwingungen z.B. werden im Ohr in Nervenimpulse transformiert, die im Gehirn (auf eine noch ungeklärte Weise) in psychische Qualia umgeformt werden. Jeder wird zugegeben, dass es prinzipielle Unterschiede zwischen a) Lichtschwingungen, b) elektrischen Nervenimpulsen (von der Netzhaut ans Gehirn gehend) und c) der faktischen Farberfahrung (z.B. Rot) gibt.
Viele Philosophen und Naturwissenschaftlier ziehen daraus den Schluss, dass Farben (und Klänge) keine Objekte sind, die von der Psyche beobachtet werden, sondern innerpsychische Qualitäten bzw. Eigenschaften der Psyche, welche ´aktiviert´ werden, wenn der Input (Schwingungen und Impulse) sie auslöst.
Woraus folgt: Farben sind unmittelbare Eigenschaften der Psyche bzw. ein Teil von ihr (also nichts Externes). Genau das könnte den Reiz ungegenständlicher Farbkompositionen erklären - in ihnen spiegeln sich Aspekte des Psychischen, die Psyche ´genießt´ sich selbst. Übrigen erklärt dieser Ansatz auch die Farbhaltigkeit von Träumen. Auch in diesen werden Farben manifest ohne jeden Bezug zu einer (objektiven, also externen) Gegenständlichkeit.
Chan
Zum Synästhesie-Thema siehe auch:
http://de.wikipedia.org/wiki/Syn%C3%A4sthesie