Abstrakte Subjektivität

Guten Tag,

in einem Zeit-Artikel vom 22. Juni 2017 habe ich Folgendes gelesen:

„Sieferle liefert eine gängige, bisweilen zutreffende „Systemkritik“, und nicht alles daran ist rechtsradikal.
Doch was an seinen Notaten interessant ist, das wurde anderswo schon
genauer und ohne den Sound dünkelhafter Verachtung beschrieben: das
Elend eines leeren Fortschrittsglaubens; die Zunahme von Zwang in der
„freien“ Gesellschaft; die Selbstbanalisierung der Kultur; die
Traurigkeit einer abstrakten Subjektivität, die gar nicht mehr weiß,
wovon sie sich einmal emanzipiert hatte. Etliche Gedanken könnten aus
dem Portfolio eines Botho Strauß oder Ernst Jünger stammen, dessen
spekulativer Belletristik Sieferle die Idee entwendet, die
Weltgeschichte werde tief unten von Elementarkräften bewegt.“

Trotz eigener Recherche habe ich nichts gefunden, was mich weiterbringt. Kann mir jemand erklären, was mit „abstrakter Subjektivität“ gemeint ist? Und zwar so, als ob er/sie es einem Siebenjährigen erklären würde? :wink:

Vielen Dank im Voraus und noch einen schönen Feiertag.

Grüße
Tommiks

Es gibt hier zwei Möglichkeiten, den Ausdruck zu interpretieren: Die eine wäre der Hegelianische Begriff der Abstraktion, der andere der alltägliche Abstraktionsbegriff im Sinne von ´weglassen´. Ersterer ist in diesem Artikel sicher nicht gemeint, also wenden wir uns dem zweiten zu. Die Lösung des Rätsels liegt schon im Satz selbst:

Das ´Weggelassene´ bei der angesprochenen Subjektivität besteht also im Vergessen der historisch-kulturellen Wurzeln der modernen Subjektivität. Was das moderne Subjekt in der „selbstbanalisierten Kultur“ vergessen hat, ist der revolutionäre Kampf gegen die subjektivitätsunterdrückenden theokratischen Systeme des Mittelalters, wie er in der Zeit der Renaissance entfacht wurde und im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert zur vollen Entfaltung und zu seinem Sieg kam - nämlich in der Französischen Revolution und in Ansätzen bereits in der kurz davor stattfindenen Amerikanischen Revolution. Das Menschenrecht war entdeckt und zur Grundlage des Verfassungsdenkens geworden. Damit war ein Rahmen geschaffen, in dem Subjektivität gedeihen konnte. „Emanzipiert“ - wie es im Artikel heißt - hat sie sich, wie gesagt, von der theokratischen Bevormundung durch die theologischen Ideologien des Mittelalters, die dem Subjekt nur eine Funktion als Diener (eher schon Sklave) zweier phantasierter Superwesen (Gott und Christus) zugestand. Im Zuge der abendländischen Aufklärung (beginnend ab Machiavelli, mit tatkräftiger Unterstützung der Freimaurer im 18. Jahrhundert zur Reife gelangend) trat die dem Menschen eigene´Vernunft´ an die Stelle der theokratischen Phantasmen. So konnte Kant 1784 schreiben:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben
nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes
liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

All das ist dem modernen Menschen (bzw. den allermeisten) nicht mehr bewusst. Insofern ist ihre Subjektivität abstrakt, sie hat ihre Wurzeln ´weggelassen´, d.h. verdrängt.