Abweichendes Verhalten von Normen notwendig ?!

Hallo,
habe gerade eine Soziologie-Vorlesung hinter mir und ich bin etwas verwirrt.
Also…

Abweichendes Verhalten von Normen (bzw. einige wenige Verstöße gegen Normen) ist (sind) wichtig für die Entwicklung einer Gesellschaft.
(Das meinte unser Professor und es steht auch überall im Internet usw.)
Aber die Erklärung dazu kann ich mir irgendwie nicht ganz herleiten -

denn wenn es überhaupt keine Verstöße gegen Normen geben würde, wäre das doch positiv, oder? Die Notwendigkeit der Norm würde dann praktisch entfallen.

Wenn es aber „ab und zu“ abweichendes Verhalten gibt…?
Hat es damit zu tun, dass die Sanktion (in diesem Fall negative S.) als eine Art Abschreckung für die Gesellschaft dient und es somit keine massenhafte Verstöße gibt?

(Andererseits ist es doch gar nicht immer falsch, wenn es massenhafte Verstöße gibt, z.B. in Bezug auf die Geschichte… z.B. homosexuelle Liebe, die früher auch unter Strafe stand… es gab dann aber viele „Verstöße“ dagegen… usw… )

Ich bin verwirrt…

Kann mir jemand helfen? :smile:

Hallo Christine,

bin kein Soziologe, habe trotzdem gerade Lust, zu antworten.

denn wenn es überhaupt keine Verstöße gegen Normen geben
würde, wäre das doch positiv, oder? Die Notwendigkeit der Norm
würde dann praktisch entfallen.

Dann wären wir keine Wesen mit menschlicher Psychologie. Sondern den Bienen ähnlich, die seit Millionen von Jahren ihre sechseckigen Waben bauen. Kein Bienen-Individuum weicht je davon ab und baut frech und mutig irgendetwas Ausgefallenes. Jederzeit eingehaltene Normen, die vollkommen verinnerlicht sind, schon in den Genen stecken, und die das soziale Leben determinieren - damit gäbe es keine Entwicklung mehr.

Abweichendes Verhalten von Normen (bzw. einige wenige Verstöße
gegen Normen) ist (sind) wichtig für die Entwicklung einer
Gesellschaft.

Die Normen sind dafür da, um ein halbwegs geordnetes soziales Leben zu gewährleisten. Und die Verstöße verhindern die Erstarrung, ermöglichen es, Normen auch in Frage zu stellen, und mitunter hinter sich zu lassen, durch zeitgemäßere zu ersetzen.

Es ist ein Paradoxon, das dem Gegensatz zwischen einer völlig konservativen starren Ordnung und einem anarchischen Chaos entspringt. Jeder dieser Pole für sich allein ist nicht wünschenswert (das anarchische Chaos mir allerdings sympathischer). Daher bedarf es für eine lebendige und entwicklungsfähige Gesellschaft einer Mischung aus beidem.

Für die Bienen sind die sechseckigen Waben die „endgültige Wahrheit“. Für uns Menschen ist das Leben, ist die Welt komplizierter und wir müssen unsere „Wahrheiten“ und Normen immer wieder in Frage stellen und neu verhandeln. Daß dies auch stattfindet, gewährleistet unsere Psychologie.

Grüße,

I.

Hallo Christine,

ich bin auch „nur“ Hobby-Soziologe. Aber will auch meinen Senf abgeben.

denn wenn es überhaupt keine Verstöße gegen Normen geben
würde, wäre das doch positiv, oder?

Aber es würde eben keine Entwicklung stattfinden.

Ob diese Entwicklung nun positiv oder negativ ist (was sicherlich auch vom Standpunkt der Sichtweise abhöngt)ist unabhängig einer Entwicklung. Eine Norm entsteht dadurch, dass eine Vorgehensweise, Tat oder ein Verhalten allgemein anerkannt ist. Diese Norm muss somit einen Vorteil, eine Simplifizierung darstellen.

Wird dieser Stand des Wissens nun für gültig befunden, so wird danach gehandelt solange dieser Zustand der Norm anhält. Damit stopt aber gleichzeitig der Entwicklungprozess.

Ich hoffe es ist verständlich was ich meine.

Gruß
Richi

Auch hallo,

verstehe mal „abweichendes Verhalten“ nicht immer als was negatives, und schon geht´s: Ohne abweichendes Verhalten (auch das Denken gehört dazu) würde sich die Sonne noch um die Erde drehen. Alles Weitere denk die selber aus, wie und wo Du leben würdest.

Gruß vom Vieux

Dialektik von Norm und Abweichung
Hi,

als Spezialist für Normenverstöße kann ich sagen (und das weitgehend konform mit den anderen hier):

Normen bringen die notwendige Stabilität in das soziale Miteinander. Sie sind integrativ und garantieren Kommunikation und ökonomischen Austausch. Sie sind Richtlinien, die für den Einzelfall vorgeben, wohin die Handlung zu gehen hat, falls sie gemeinschaftsdienlich sein soll.

Normen sind also ein stabiles Gerüst.

Handelten die Menschen nur nach ihnen, fehlte allerdings ein anderer Wert: die Flexibilität. Normen sind historische Produkte und damit relativ: sie sind abhängig vom geistigen Erkenntnisrahmen der Gesellschaft. In dem Maße, wie dieser Rahmen auf Mythen (lit. oder fig.) basiert, sind auch die Normen „mythisch“, also irrational. Der rationale Diskurs entscheidet in the long run, ob Normen beibehalten oder verändert werden (siehe Habermas´ Diskurstheorie: im rationalen Diskurs können Normen problematisiert und diskutiert werden. Ggfs. kann man mehrheitlich zu der Auffassung gelangen, dass eine Norm geändert werden muss, da sie dem aktuellen Erkenntnisstand nach falsch bzw. kontraproduktiv ist).

Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass Normen ständig verändert werden. Es gibt allerdings ein stabiles Grundgerüst, das offensichtlich unverzichtbar ist: Tötungsverbot und Inzestverbot, um die wichtigsten Beispiele zu nennen. Eine interessante Theorie über die Motive des Inzestverbots hat Mitte des 20. Jahrhunderts Claude Levi-Strauss aufgestellt.

Auch kunstgeschichtlich haben Normen einen stabilisierenden, aber implizit hemmenden Effekt. Da es hier nicht um Leben oder Tod geht wie im „wirklichen Leben“, sind hier Normenverstöße bzw. Normenabbau seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Gleitmittel der Entwicklung geworden. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Kunst praktisch jeder Normenverstoß möglich und oft auch erfolgreich: Kasimir Malewitsch pinselte eine Leinwand einfach mit schwarzer Farbe zu und stellte sie aus (1912 oder so), Marcel Duchamps, in den gleichen Jahren, präsentierte in einer Ausstellung ein simples WC. Dagegen war Beuys nur noch ein Epigone.

Das Spiel Normen vs. Experiment ist für die menschliche Evolution, gleich in welchem Bereich, überlebensnotwendig. Normen garantieren relative Stabilität, Abweichungen garantieren Flexibilität und die Chance auf Weiterentwicklung aus der Starre reiner Normativität.

Gruß