Dialektik von Norm und Abweichung
Hi,
als Spezialist für Normenverstöße kann ich sagen (und das weitgehend konform mit den anderen hier):
Normen bringen die notwendige Stabilität in das soziale Miteinander. Sie sind integrativ und garantieren Kommunikation und ökonomischen Austausch. Sie sind Richtlinien, die für den Einzelfall vorgeben, wohin die Handlung zu gehen hat, falls sie gemeinschaftsdienlich sein soll.
Normen sind also ein stabiles Gerüst.
Handelten die Menschen nur nach ihnen, fehlte allerdings ein anderer Wert: die Flexibilität. Normen sind historische Produkte und damit relativ: sie sind abhängig vom geistigen Erkenntnisrahmen der Gesellschaft. In dem Maße, wie dieser Rahmen auf Mythen (lit. oder fig.) basiert, sind auch die Normen „mythisch“, also irrational. Der rationale Diskurs entscheidet in the long run, ob Normen beibehalten oder verändert werden (siehe Habermas´ Diskurstheorie: im rationalen Diskurs können Normen problematisiert und diskutiert werden. Ggfs. kann man mehrheitlich zu der Auffassung gelangen, dass eine Norm geändert werden muss, da sie dem aktuellen Erkenntnisstand nach falsch bzw. kontraproduktiv ist).
Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass Normen ständig verändert werden. Es gibt allerdings ein stabiles Grundgerüst, das offensichtlich unverzichtbar ist: Tötungsverbot und Inzestverbot, um die wichtigsten Beispiele zu nennen. Eine interessante Theorie über die Motive des Inzestverbots hat Mitte des 20. Jahrhunderts Claude Levi-Strauss aufgestellt.
Auch kunstgeschichtlich haben Normen einen stabilisierenden, aber implizit hemmenden Effekt. Da es hier nicht um Leben oder Tod geht wie im „wirklichen Leben“, sind hier Normenverstöße bzw. Normenabbau seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Gleitmittel der Entwicklung geworden. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Kunst praktisch jeder Normenverstoß möglich und oft auch erfolgreich: Kasimir Malewitsch pinselte eine Leinwand einfach mit schwarzer Farbe zu und stellte sie aus (1912 oder so), Marcel Duchamps, in den gleichen Jahren, präsentierte in einer Ausstellung ein simples WC. Dagegen war Beuys nur noch ein Epigone.
Das Spiel Normen vs. Experiment ist für die menschliche Evolution, gleich in welchem Bereich, überlebensnotwendig. Normen garantieren relative Stabilität, Abweichungen garantieren Flexibilität und die Chance auf Weiterentwicklung aus der Starre reiner Normativität.
Gruß