Nicht im AT, nur in der Gnosis
Hi FraLang
War Adam aus religiöser Sicht vor dem Sündenfall der vollkommene Mensch?
Das ist anhand des Genesis-Textes nur schwer zu bejahen. Dieser Text ist ohnehin sehr verworren, ich würde sogar sagen, er ist damals in Babylon ziemlich gedankenlos zusammengeschustert worden.
Ich hole etwas weiter aus.
Schon mehrmals habe ich darauf hingewiesen, dass die Exposition der Schöpfungsgeschichte eine – wie man in der Drehbuchszene sagt - „Backstory“ hat, also eine Vorgeschichte, die aus der konkreten Story nur ungefähr erschlossen werden kann.
Im gegebenen Fall beinhaltet die Backstory, dass es eine Göttervielfalt gibt, innerhalb derer ein Gott das Sagen hat (Vorbild ist El, der Obergott des kanaanitischen Pantheons, vom dem Jahwe einige Aspekte übernahm). Diese Göttervielfalt besteht aus Göttern und Göttinnen. Nur so ist ohne Annahme eines androgynen Schöpfergottes zu verstehen, dass die „Menschen“ (also Mann und Frau) als „unser Abbild“ entstehen (Gen 1,26).
Wer davon ausgeht, dass der Gott der Genesis ein einsamer Mono-Gott ist, liegt meines Erachtens daneben.
Die Frage ist nun, was ist ein „vollkommener Mensch“?
Als Schöpfung und Abbild einer Göttervielfalt kann ein Mensch eigentlich nicht als vollkommen gelten, denn die 70 Götter des kanaanitischen Polytheismus sind nicht vollkommen. Sie haben limitierte Kompetenzen und bedurften sogar der Zeugung durch Obergott El und Göttin Aschera, um überhaupt zu existieren. Auch Jahwe galt eine Zeitlang als ein Sohn Els und Ascheras, bis er El verdrängte und mit Aschera liierte wurde.
Mit „Vollkommenheit“ hat das alles nichts zu tun. Adam als vollkommener Mensch ist aus dem Genesis-Text nicht herauslesbar. Das ergibt sich logisch daraus, dass er (vor dem biblischen „Sündenfall“) ein willenloses Wesen ist, mit dem der Schöpfer und Eva (aus misogynen Motiven negativ dargestellt) ihre Spielchen treiben können.
Es gibt Interpretationen und Transformationen der Genesis-Geschichte, die Adam einen „überirdischen“, vollkommenen Status zusprechen. Ich spreche von der Gnosis.
In der Gnosis hat Adam einen Doppelstatus, es gibt zwei Adams. Morrighan hat den einen Aspekt dieses Doppelstatus schon angedeutet, ich führe das hier etwas genauer, wenn auch stark vereinfacht, aus:
Sophia, die Ur-Göttin und kosmischer „Mutterschoß“ (ein Geschöpf des Einen, des Ur-Vaters), bringt aus Versehen Jaldabaoth hervor, den Demiurgen (den Gott des AT). Er ist der Prototyp des missratenen Sohns, denn er ist unwissend und jähzornig. Er erschafft seine Engel (Archonten) und die materielle Welt.
Was das mit Adam zu tun hat? Es gibt vor der demiurgischen Weltschöpfung einen „himmlischen Adam“, einen strahlenden kosmischen Riesen, einen Adam des Lichts. Er ist der „vollkommene Mensch“. Die Engel aber verhöhnen den Demiurgen, weil er unbedeutender ist als Adam. So heißt es in der „Schrift ohne Titel“ (Nag-Hammadi-Codex II, 5):
(Archigenetor = Demiurg)
Bevor sich aber der Adam des Lichtes aus dem Chaos zurückgezogen hatte, sahen ihn die Mächte und lachten den Archigenetor aus, weil er gelogen hatte, als er sagte: ,Ich bin Gott. Niemand existiert vor mir. Als sie nun zu ihm kamen, sagten sie: ,,Ist dieser etwa nicht der Gott, der unser Werk vernichtet hat?
(gemeint ist der himmlische Adam, Anm. Chan) Er antwortete und sagte: ,Ja. Wenn ihr nicht wollt, dass er in der Lage ist, unser Werk zu vernichten, dann lasst uns einen Menschen aus der Erde erschaffen, nach dem Bild unseres Körpers und nach dem Abbild von diesem (Adam des Lichtes, Anm. Chan), dass er uns diene, damit er, wenn er sein Ebenbild sieht, es liebe.
Nach der materiellen Erschaffung kriecht der Adam-Klon aber nur hilflos am Boden. Seine Mutter Sophia erbarmt sich und haucht ihm das „Licht“ ein, einen Funken des pleromatischen Lichtreiches, das den Menschen fortan mit dem Himmel (Pleroma) verbindet und seine Erlösung (Rückkehr ins Lichtreich) ermöglicht. Erst so wird Adam zum funktionstüchtigen Menschen.
Der biblische Adam ist, sofern man den Genesis-Text zugrunde legt, also ein sehr unvollkommenes Wesen, und das vom Start weg. Der Text degradiert ihn zu einem schwachen und vom Schöpfer abhängigen Geschöpf.
Die gnostische Lesart ist anders. Sie sieht den irdischen Adam als erlösungsbedürftiges Abbild des himmlischen Adam. Ich meine, dass diese Sicht viel konstruktiver ist als die biblische.
In der gnostischen Sicht gibt es nämlich eine unmittelbare Verbindung zwischen Mensch und Göttlichkeit, in der biblischen nicht. In der Bibel ist schon der Schöpfergott unvollkommen (z.B. jähzornig und neidisch), wie kann da sein Geschöpf vollkommen sein?
Ein Hinweis auf eine ähnliche Anschauung im Vedanta: hier ist Atman, der Kern der menschlichen Seele, die Widerspiegelung des göttlichen Brahman. Das entspricht dem Verhältnis zwischen dem (gnostischen) Lichtfunken im Menschen und dem Lichtreich des gnostischen Pleroma.
Chan