Christlicher Synkretismus
Hi Rolf.
Es ist in der Tat richtig, dass ich mich in meiner Antwort mit
der Frage der Historizität Jesu nicht beschäftigt habe; dies
schien - und scheint! - mir aber auch nicht nötig, denn soweit
ich sehe, gibt es keinen ernsthaften Historiker, der die
Existenz eines Wanderpredigers namens Jesus mit dem Heimatort
Nazareth bestreitet.
Ins Deutsche übersetzt heißt das für mich: Jeder Historiker, der die Historizität von Jesus abstreitet oder zumindest stark in Zweifel zieht, ist per definitionem kein „ernsthafter“ Historiker. Diese Tabuisierung der Nichtexistenz-Hypothese ist wissenschaftslogisch nicht haltbar. Ich könnte dir x kompetente Religionshistoriker aufzählen, die JC für ein Konstrukt halten (vor allem in den Reihen der niederländischen Radikalkritik) - von ihnen bin ich in meiner Meinung ja bestärkt worden.
Auch über die Tatsache, dass manche Feste von der christlichen
Kiche auf Daten gelegt worden sind, die schon anderweitig
besetzt waren, müssen wir nicht streiten. Das war einfach so.
In der Tat. Darin zeigt sich - meiner und längst nicht nur meiner Meinung nach - die prinzipielle Strategie des Christentums: nämlich die gänzlich ungenierte synkretistische Aneignung von Elementen fremder Religionen/Kulte. Kein „ernsthafter“ Religionswissenschaftler streitet ab, dass das in hohem Maße durch das Christentum praktiziert wurde. Die Frage ist nur, wie hoch das Maß ist, wobei die Obergrenze von 100 Prozent prinzipiell nicht ausgeschlossen werden darf. Der erste Apologet und Hellenisierer, Justin, schrieb selbst in Apol. 1,20 ff:
Wenn wir aber weiterhin behaupten, der Logos, welcher Gottes erste Hervorbringung ist, sei ohne Beiwohnung gezeugt worden, nämlich Jesus Christus, unser Lehrer, und er sei gekreuzigt worden, gestorben, wieder auferstanden und in den Himmel aufgestiegen, so bringen wir im Vergleich mit den Zeussöhnen nichts Befremdliches vor… Wenn wir aber sagen, er sei auf ganz eigene Weise entgegen der gewöhnlichen Abstammung als Logos Gottes aus Gott geboren worden, so ist das, wie schon vorhin gesagt wurde, etwas, was wir mit euch gemeinsam haben, die ihr den Hermes den von Gott Kunde bringenden Logos nennt. Sollte man aber daran Anstoß nehmen, dass er gekreuzigt worden ist, so hat er auch das mit euren vorhin aufgezählten Zeussöhnen (Anm. Chan: Hermes, Dionysos, Herakles ) gemeinsam, die auch gelitten haben; denn von diesen werden nicht gleiche, sondern verschiedene Todesarten erzählt, so dass er auch in der ihm eigentümlichen Todesart ihnen nicht nachsteht… Wenn wir ferner behaupten, er sei von einer Jungfrau geboren worden, müsst ihr hierin eine Übereinstimmung mit Perseus zugeben. Sagen wir endlich, er habe Lahme, Gichtbrüchige und von Geburt an Siechende gesund gemacht und Tote erweckt, so wird das dem gleichgehalten werden können, was von Asklepios erzählt wird…
Die Modelle für eine fiktionale Jesusfigur sind also zahlreich und reichen, in der Gesamtheit der Aspekte, von Spartacus über diverse Zeloten bis zu Attis, Osiris, Hermes, Asklepios etc. Was die Passionsgeschichte betrifft, war sie ursprünglich vermutlich ein separates Mysteriendrama nach den Kriterien des antiken Dramas, musste also die Bedingung erfüllen, dass sich die Handlung (Gefangennahme bis Kreuzigung) innerhalb der Story über maximal einen Tag hinzieht. Das erklärt z.B. die historische Ungereimtheit eines nächtlichen Prozesses im Sanhedrin. Der prinzipielle Inhalt des Mysteriendramas (Tod und Auferstehung) entsprach eins zu eins den Inhalten aller damals gängigen Mysteriendramen.
Es gibt einfach keinen zwingenden Grund, anzunehmen, dass irgendetwas an der JC-Story auf Fakten beruht. Es spricht nichts dafür, aber vieles dagegen.
Chan