Hallo „nurmitlesen“,
ich tue mir schwer mit dem „Werktreue“-Begriff, weil er aus meiner Sicht sehr unterschiedlich verwendet wird.
Die einen sagen, Werktreue bedeutet, dass man die Regieanweisungen (so vorhanden) so exakt wie möglich umsetzt; andere wiederum meinen, dass Werktreue dann gegeben ist, wenn die Aussage, die Essenz, der Kern eines Stückes vermittelt wird.
Ich habe vor einiger Zeit auf YouTube eine interessante Besprechung des Films „Bram Stoker´s Dracula“ von Francis Ford Coppola aus dem Jahr 1992 gesehen.
In dieser Rezension wurde die Szene erwähnt, in der Lucy, die zum Vampir geworden ist, einen der Männer verführt um ihn zu beißen, bevor Van Helsing sie mittels Kruzifix in ihre Schranken weist.
Dabei wurde erwähnt, dass diese Szene in Stokers Roman anders aussieht: im Roman ist Lucy einfach nur eine „wollüstige“, selbstbewusst wirkende Frau, die eindeutige Absichten vermittelt. Für das viktorianische Publikum des ausgehenden 19. Jahrhunderts war das wohl etwas Unerhörtes, etwas Böses und Gruseliges: die brave, anständige, gottesfürchtige Lucy ist auf einmal so ein sexuelles, wollüstiges Wesen!
Coppola wollte in seiner Verfilmung offenbar ebenfalls dem Publikum den „Schrecken“, den „Ekel“ vor der vampirischen Lucy vermitteln, wusste aber, dass er für ein Publikum von 1992 nicht die Lucy aus dem Roman 1:1 übernehmen konnte, also tat er es auf eine andere Weise. Er machte aus ihr eine schon hübsche, dabei aber groteske, clown-ähnliche Gestalt, die erfolgreich einen der Männer verführt – der Gruseleffekt besteht für den modernen Zuseher also darin, dass diese für uns abstoßende, sich unnatürlich bewegende Gestalt auch noch Erfolg hat mit ihren Verführungskünsten!
Und diese Szene illustriert, was für mich Werktreue bedeutet: Coppola wollte dem Publikum von 1992 möglichst das gleiche Gefühl geben, das Stoker seinem Publikum der 1890er Jahre geben wollte, wusste aber, dass er diese Szene von damals nicht 1:1 verwenden konnte, weil man 1992 andere Sehgewohnheiten und Moralvorstellungen hatte.
Er blieb also – aus meiner Sicht – dem Werk treu, indem er versuchte, den Effekt, den das Werk erzielen wollte, für ein heutiges Publikum wieder zu erzielen, nur eben auf eine auf ein modernes Publikum zugeschnittene Weise.
Umgekehrt wäre die Frage: was wäre, wenn man die Szene 1:1 übernommen hätte, und das Publikum nicht das empfindet, was Stoker wollte, sondern Lucy stattdessen total sexy findet? Wäre man durch diese 1:1-Version trotzdem werktreu, oder doch eher lediglich textgetreu?
Wie siehst du das?
Um wieder zurück zu meiner Frage zu kommen: ich frage mich doch, ob es nun notwendig ist, diesen Schutzmantel der Komödie auch heute noch zu zeigen, wo es eigentlich gar nicht mehr notwendig ist.
Besteht nicht die Gefahr, dass das damalige Publikum zwar die Sozialkritik hinter der Komödie verstand, ein heutiges Publikum aber nur noch die Komödie sieht?
Liebe Grüße!