Alltagsgeschichte

Hallo.

Die eigentliche Geschichtswissenschaft erforscht ja in erster Linie anhand schriftlicher Dokumente die politischen Vorgänge und Staatsgebilde mit ihren Rechtssystemen, die Kunstgeschichte untersucht Kunstgegenstände und kunsthistorisch bedeutende Bauwerke, während die Archäologie sich anhand von Ausgrabungen mit frühgeschichtlichen und antiken Kulturen befaßt.

Welche Wissenschaft aber erforscht - im räumlichen und zeitlichen Umfang wie die Kunstgeschichte, also für das Abendland seit dem Mittelalter - anhand von Gegenständen, Anlagen, aber auch schriftlichen Dokumenten, die Geschichte des alltäglichen Lebens?
Die oben genannten Wissenschaftsgebiete erfüllen diese Bedingung ja alle nicht so richtig.

Grüße,
Frhr. v. Doppelripp

Volkskunde
Moin,

das tut z.B. die Volkskunde http://de.wikipedia.org/wiki/Volkskunde

Die oben genannten Wissenschaftsgebiete erfüllen diese
Bedingung ja alle nicht so richtig.

Irgendwie hast Du Recht, aber irgendwie auch nicht :wink:
Eine ganz klare Trennung zwischen den diversen Kultur- oder Geisteswissenschaften gibt es nicht, oder zumindest nicht mehr.

Grüße
Pit

Eine ganz klare Trennung zwischen den diversen Kultur- oder
Geisteswissenschaften gibt es nicht, oder zumindest nicht
mehr.

Ja, das versteht sich. Auf die Frage bin ich gekommen, nachdem ich überlegt habe, welche Ausbildung ein professioneller Sachverständiger für Zinngeschirr hat. Das wurde ja oft nicht als Kunstgegenstand angefertigt, hat aber auch oft einen kunsthistorischen Wert.
Ich habe eben nach der Wissenschaft gesucht, die das von mir genannte Arbeitsfeld vorrangig zum Inhalt hat. Volkskunde scheint es recht gut zu treffen.

Grüße,
Frhr. v. Doppelripp

Erforschung der verschiedenen ‚Lebenswelten‘
Hi,

das tut ja zum Beispiel die Soziologie, Psychologie und Philosophie. Bekanntlich hat Dr. Karl Marx die Bedingungen der Menschen in der Industriegesellschaft erforscht. Und vor Marx hat der englische Philosoph Professor Adam Smith die Bedingungen erforscht, wie der „Wohlstand der Nationen“ zustande kommt. Der Amerikaner Frederick Taylor hat das „wissenschaftliche Managements“ vor gut 100 Jahren begründet. Dagegen gibt es heute das so genannte „Evolutionäre Management“, wonach der „Wohlstand“ bzw. die Verbesserung der Lebensbedingungen das Ziel aller Menschen ist. Wenn die klassische Industrie überrannt wird durch die Informationen der globalen Medien-Vernetzung, dann ist das doch geradezu eine Wissenschaft des realen Alltags.

Man bedenke auch die „Erneuerung der Philosophie“, wie sie zum Beispiel der amerikanische Pragmatismus vertritt, durch die Absicht der westlichen Welt gegenüber Russland, China und den arabisch-islamischen Ländern, beispielsweise Freiheit, Demokratie und Menschenrechte den Diktaturen dieser Welt entgegenzusetzen, auch wenn das lange dauert. Das ist doch dann konkret eine Alltags-Wissenschaft, die sich mit der „Lebenswelt“ beschäftigt in Wirtschaft, Kunst und Politik.

Auch die „Neurologie“ wird zum Beispiel zur Alltagswissenschaft, wenn man Menschen ins Gehirn schauen kann, um ihre unbewussten Motive zu erforschen, während z. B. emotionale Wünsche entstehen und sie etwas aufgrund bestimmter Pawlow’scher Reize kaufen. Im Übrigen gibt es selten Begriffe, die allgemein so populär geworden sind durch die Philosophie und Wissenschaft, wie der Begriff „Lebenswelt“.Der Begriff „Lebenswelt“ wurde von dem Freiburger Philosophieprofessor Edmund Husserl kreiert, mit seiner Philosophie der Phänomenologie, deren methodisches Ziel es ist, die verschiedenen „Lebenswelten“ zu erforschen.

Gruß
C.

Hallo.

Die eigentliche Geschichtswissenschaft erforscht ja in erster
Linie

das mag Dein persönliches Verständnis von Geschichtswissenschaft sein - es ist jedoch ein sehr begrenztes. Neben politischer Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie gibt es eine Fülle weiterer Disziplinen (um nur mal beispielhaft so unterschiedliche wie Sozialgeschichte, Regionalgeschichte und Wissenschaftsgeschichte zu nennen) - und keine davon kann Anspruch darauf erheben, „die eigentliche Geschichtswissenschaft“ zu sein. Diese ist vielmehr die Summe aller ihrer Spezialdisziplinen.

Welche Wissenschaft aber erforscht - im räumlichen und
zeitlichen Umfang wie die Kunstgeschichte, also für das
Abendland seit dem Mittelalter

Auch dies ist eine merkwürdig beschränkte Sichtweise. Gerade Winckelmann, der auch den Begriff ‚Kunstgeschichte‘ prägte, leitete diesen Wissenschaftszweig paradigmatisch mit der ‚Geschichte der Kunst des Altertums‘ ein. Selbstverständlich beschäftigt sich Kunstgeschichte (wiederum in eigenen Unterdisziplinen) mit der Gesamtheit künstlerischer Hervorbringungen ohne zeitliche oder geographische Schranken.

  • anhand von Gegenständen,
    Anlagen, aber auch schriftlichen Dokumenten, die Geschichte
    des alltäglichen Lebens?

Es wird Dich überraschen, aber dieser Zweig der Geschichtswissenschaft heisst in Deutschland genauso wie der Titel Deines Threads - nämlich Alltagsgeschichte. Enge Verbindungen bestehen natürlich im Allgemeinen zur Sozialgeschichte, im Speziellen zur französischen École des Annales und zur italienischen Microstoria.

Freundliche Grüße,
Ralf

Die eigentliche Geschichtswissenschaft erforscht ja in erster
Linie

das mag Dein persönliches Verständnis von
Geschichtswissenschaft sein - es ist jedoch ein sehr
begrenztes. Neben politischer Geschichte, Kunstgeschichte und
Archäologie gibt es eine Fülle weiterer Disziplinen (um nur
mal beispielhaft so unterschiedliche wie Sozialgeschichte,
Regionalgeschichte und Wissenschaftsgeschichte zu nennen) -
und keine davon kann Anspruch darauf erheben, „die eigentliche
Geschichtswissenschaft“ zu sein. Diese ist vielmehr die Summe
aller ihrer Spezialdisziplinen.

Immerhin gibt es ja das Schulfach und den Universitätsstudiengang Geschichte, die sich vor allen Dingen auf schriftlicher Basis mit politischer Geschichte
befassen, während Kunstgeschichte und Archäologie eigene Studien sind.

Welche Wissenschaft aber erforscht - im räumlichen und
zeitlichen Umfang wie die Kunstgeschichte, also für das
Abendland seit dem Mittelalter

Auch dies ist eine merkwürdig beschränkte Sichtweise. Gerade
Winckelmann, der auch den Begriff ‚Kunstgeschichte‘ prägte,
leitete diesen Wissenschaftszweig paradigmatisch mit der
‚Geschichte der Kunst des Altertums‘ ein. Selbstverständlich
beschäftigt sich Kunstgeschichte (wiederum in eigenen
Unterdisziplinen) mit der Gesamtheit künstlerischer
Hervorbringungen ohne zeitliche oder geographische Schranken.

Auch hier habe ich mich auf die Beschreibung des Studiengangs „Kunstgeschichte“ an mehreren deutschen Universitäten gestützt - die sollten es doch am besten wissen.

  • anhand von Gegenständen,
    Anlagen, aber auch schriftlichen Dokumenten, die Geschichte
    des alltäglichen Lebens?

Es wird Dich überraschen, aber dieser Zweig der
Geschichtswissenschaft heisst in Deutschland genauso wie der
Titel Deines Threads - nämlich Alltagsgeschichte. Enge
Verbindungen bestehen natürlich im Allgemeinen zur
Sozialgeschichte, im Speziellen zur französischen École des
Annales und zur italienischen Microstoria.

Das überrascht mich wirklich, zumal ich dem Begriff im offiziellen Rahmen noch nicht begegnet bin, z. B. M. A. oder Doktor in Alltagsgeschichte. Für Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie gibt es das ja Auf welchem Weg wird man Wissenschaftler der Alltagsgeschichte? Dafür scheint Ethnologie doch das nächstliegende zu sein.

Grüße,
Frhr. v. D.

Welche Wissenschaft aber erforscht - anhand von Gegenständen,
Anlagen, aber auch schriftlichen Dokumenten, die Geschichte
des alltäglichen Lebens?

Die Ethnologie erforscht das allgemeine Verhalten von Völkern. Der französische Philosoph und Ethnologe Claude Lévi-Strauss tat das zum Beispiel. In seinem Buch „Rasse und Geschichte“ heißt es zum Beispiel: „Wie können wir der zunehmenden Homogenisierung der Kulturen gewaltlos entgegensteuern, um eine fortschritterhaltende Heterogenität der Kulturen zu erzeugen?“

Frage: Was hat die Ethnologie den MODERNEN Gesellschaftstheorien zu bieten, wenn Einzelwissenschaften wie z. B. die Politikwissenschaft einen „Kampf der Kulturen“ propagiert? Haben Ethnologen überhaupt einen pragmatischen Einfluss auf die „Alltagsgeschichten“ der heutigen Welt???

Immerhin gibt es ja das Schulfach und den
Universitätsstudiengang Geschichte,

Zwischen beidem ist ein erheblicher Unterschied, auch wenn die meisten Historiker als Geschichtslehrer enden. Was an verschiedenen Universitäten als Studiengang „Geschichte“ angeboten wird, unterscheidet sich z.T. erheblich voneinander. An der FU Berlin beispielsweise ist das ein Fach im Kombi-Bachelor mit Lehramtsoption. Das ist Schmalspur für zukünftige Geschichtslehrer. An der Uni Hamburg hingegen ist das ein ganzer Fachbereich, der wiederum 4 Arbeitsbereiche enthält. Im Arbeitsbereich ‚Außereuropäische Geschichte‘ kannst Du dann beispielsweise bei Prof. Dr. Jürgen Zimmerer „Geschichte Afrikas südlich der Sahara“ studieren oder bei Prof. Dr. Henner Fürtig „Nahoststudien“. Da solltest Du Dir vorher aber schon mal ein solides Basiswissen angeeignet haben.

die sich vor allen Dingen
auf schriftlicher Basis mit politischer Geschichte
befassen, während Kunstgeschichte und Archäologie eigene
Studien sind.

Nochmals, da liegst Du falsch. Archäologie ist wie Geschichtswissenschaften ein Fachbereich. Jemand, der im Fachbereich Archäologie beispielsweise den Studiengang ‚Altertumswissenschaften - Klassische Archäologie‘ belegt, wird in aller Regel im Fachbereich Geschichtswissenschaften den Studiengang ‚Altertumswissenschaften‘ belegen. Anders macht das nämlich wenig Sinn. Das Schubladendenken macht Sinn, wenn man sich sein persönliches Studienprogramm zusammenstellt - aber auch nur da. Natürlich kann man auch Kunstgeschichte und Archäologie kombinieren, etwa im Studiengang ‚Kunstgeschichte und Archäologie‘ an der Uni Mainz.

Selbstverständlich
beschäftigt sich Kunstgeschichte (wiederum in eigenen
Unterdisziplinen) mit der Gesamtheit künstlerischer
Hervorbringungen ohne zeitliche oder geographische Schranken.

Auch hier habe ich mich auf die Beschreibung des Studiengangs
„Kunstgeschichte“ an mehreren deutschen Universitäten gestützt

  • die sollten es doch am besten wissen.

Ah ja? Hast Du dir mal beispielsweise die Studiengänge ‚Ostasiatische Kunstgeschichte‘ der FU Berlin oder der Uni Heidelberg angeschaut? Oder ‚Islamische Kunstgeschichte und Archäologie‘ der Uni Bamberg? Auf ‚Kunstgeschichte und Archäologie‘ in Mainz hatte ich ja schon hingewiesen …

Was Studiengänge lediglich mit der Bezeichnung „Kunstgeschichte“ angeht, so dürfte die LMU München da erste Adresse sein. Schau dir mal dort die Beschreibung an. „Die Kunstgeschichte umfaßt einen überaus breiten Gegenstandsbereich, das heißt, sie beschäftigt sich mit Kunstgegenständen vom 6. bis zum 21. Jahrhundert aus allen Ländern Europas, für die neuere Zeit auch aus außereuropäischen Ländern …" "Die Geschichte der Kunst wird nicht nur vom Fach ‚Kunstgeschichte‘ ‚geschrieben‘ bzw. gelehrt. Sie ist auch Studienobjekt anderer Fächer wie der klassischen Archäologie, frühchristlichen und byzantinischen Kunstgeschichte, Iranistik, Ägyptologie, Indologie, Sinologie, Vor- und Frühgeschichte, Volks- und Völkerkunde.

Das überrascht mich wirklich, zumal ich dem Begriff im
offiziellen Rahmen noch nicht begegnet bin, z. B. M. A. oder
Doktor in Alltagsgeschichte.

Wie ich Dir schon gesagt habe, ist Alltagsgeschichte ein Teil der Geschichtswissenschaften - keine eigenständige Disziplin. Zur Einführung in den Begriff: http://www.suite101.de/content/alltagsgeschichte-in-… Ansonsten hilft http://lmgtfy.com/?q=Alltagsgeschichte für’s erste.

Für Geschichte, Kunstgeschichte
und Archäologie gibt es das ja

Tatsächlich? Wie nennen die sich denn? Dr. hist.? Dr. arch.? Ich würde eher vermuten Dr. phil. - und zwar egal welcher von den genannten Fachbereichen Schwerpunkt des Studiums war.

Auf welchem Weg wird man
Wissenschaftler der Alltagsgeschichte? Dafür scheint
Ethnologie doch das nächstliegende zu sein.

Ethnologie ist ggf. als Nebenfach in Kombination mit einem geschichtswissenschaftlichen Studiengang sinnvoll, wenn Du Dich auf die Alltagsgeschichte einer bestimmten Kultur (Ethnie) spezialisieren willst. Ethnologie beschäftigt sich in aller Regel eher weniger mit historischen Problemstellungen.

Freundliche Grüße,
Ralf

Einige Anmerkungen
Hallo.

Danke für die ausführlichen Erklärungen.
Nur einige Dinge hätte ich doch noch anzumerken:

die sich vor allen Dingen
auf schriftlicher Basis mit politischer Geschichte
befassen, während Kunstgeschichte und Archäologie eigene
Studien sind.

Nochmals, da liegst Du falsch.

Womit? Daß es die Studiengänge Geschichte (sowohl allgemein als auch nach Zeit und Ort spezialisiert) bzw. Kunstgeschichte bzw. Archäologie (allgemein und in verschiedenen Spezialisierungen) eigenständig nebeneinander existieren, stimmt doch wohl. Man konnte meistens die Spezialfächer als Magisternebenfach und die allgemeinen Studiengänge als Haupt- oder Nebenfach studieren, inzwischen wahrscheinlich als Bachelor Haupt- oder Nebenfach.

Was Studiengänge lediglich mit der Bezeichnung
„Kunstgeschichte“ angeht, so dürfte die LMU München da erste
Adresse sein. Schau dir mal dort die Beschreibung an. "Die
Kunstgeschichte umfaßt einen überaus breiten
Gegenstandsbereich, das heißt, sie beschäftigt sich mit
Kunstgegenständen vom 6. bis zum 21. Jahrhundert aus allen
Ländern Europas,
für die neuere Zeit auch aus
außereuropäischen Ländern …"

Also stimmt doch das von mir Gesagte, daß sich dieses Fach nämlich in erster Line auf den abendländischen Raum (= Länder Europas) seit dem Mittelalter (6. -21. Jahrhundert) bezieht. Nicht ausschließlich natürlich.

"Die Geschichte der Kunst wird

nicht nur vom Fach ‚Kunstgeschichte‘ ‚geschrieben‘ bzw.
gelehrt. Sie ist auch Studienobjekt anderer Fächer wie der
klassischen Archäologie, frühchristlichen und byzantinischen
Kunstgeschichte, Iranistik, Ägyptologie, Indologie, Sinologie,
Vor- und Frühgeschichte, Volks- und Völkerkunde."

Das habe ich ja nicht bezweifelt. Vielmehr ist das ja irgendwie klar, wenn sich die eigentliche Wissenschaft Kunstgeschichte mit diesen Zeiträumen/Regionen eben nicht befaßt, müssen ja die regions-/zeitraumbezogenen Wissenschafte auch die für sie spezifische Kunstgeschichte abdecken.

Tatsächlich? Wie nennen die sich denn? Dr. hist.? Dr. arch.?
Ich würde eher vermuten Dr. phil.

Für den Doktortitel sehr wahrscheinlich, soweit ich weiß, deckte der Dr. phil doch die ganzen oder zumindest die meisten Magisterfächer ab.
Jedenfalls konnte man aber mit einer Zweier- oder Dreierkombination aus den Fächern Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie bzw. Alte Geschichte, neurere Geschichte usw. (auch in Kombination mit noch anderen Fächern wie etwa Sprachen) den Magister machen, jetzt wohl eher den Bachelor-/Master.

Ich hatte eben nach einem Wissenschaftszweig gesucht, der sich, ähnlich wie die Kunstgeschichte mit Kunstgegenständen, mit anderen als Kunstobjekten befaßt und u. a. auf dieser Grundlage in erster Linie die Geschichte des Alltagslebens und der Gesellschaft behandelt, und nicht nur (wie ich es sowohl im Schul- als auch im Studienfach Geschichte erlebt habe) sehr am Rande und ausschließlich anhand von Schriftquellen.

Ethnologie ist ggf. als Nebenfach in Kombination mit einem
geschichtswissenschaftlichen Studiengang sinnvoll, wenn Du
Dich auf die Alltagsgeschichte einer bestimmten Kultur
(Ethnie) spezialisieren willst. Ethnologie beschäftigt sich in
aller Regel eher weniger mit historischen Problemstellungen.

Vielleicht trifft es dann der Begriff „Volkskunde“ oder Kulturgeschichte eher? Ich werde einmal recherchieren.

Grüße,
Frhr. v. Doppelripp