Hallo Marcus!
Erstmal vielen Dank für deine Frage.
Da ich es als Liebhaber der Mundart und deren
Geschichte schon immer vorzog den wortwörtlichen
Sprachschatz aus ahd. Zeit möglichst genau ins
Neuhochdeutsche zu übertragen, bot sich mir mit deiner
Frage eine Arbeit an, die mir einmal mehr beweist wie
„produktiv“ das Althochdeutsche war. Ohne nun in
irgendeiner Weise der sog. Kompetenz einen Stein in den
Weg zu legen - es war mir bisher nie möglich aus meiner
unerklärlich großen Interesse zum Althochdeutschen
heraus auch zu „wirken“. Ich habe nun versucht Notkers
Worte vorerst nur wörtlich zu übersetzen (so wie es ja
urtümlicherweise damals immer üblich war, gerade das
Latein wortwörtlich zu übertragen, bzw. im Ahd. war es
üblich hierfür aus vorhandenem Erbwortschatz neue Worte
für die diutisca zunga zu finden). Leider lässt sich
nicht mehr nachweisen, ob vielleicht sogar im
spätalthochdeutschen Physiologus nicht irgendwo auf
den/die „scerbo/scerba“ eingegangen wurde, da uns nicht
mehr alle Kapitel erhalten sind. Da der sog.
Physiologus schon früh weite Verbreitung fand, sei
nicht auszuschließen, dass er sogar Notker selbst
stellenweise zur Vorlage diente. (Vorsichtig genommen
springt einem ja gerade Notkers „phisiologi“ ins Auge,
wenngleich vllt. nur eine ganz allgemeine Bezeichnung
aus griechisch-lateinischer Gelehrtenwelt)
http://www.hs-
augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/11Jh/Physiolo
gus/phy_intr.html
„Vone suftoda unde fone charo bin ih so mager samaso
pellicannus der in Egipto fliuget in dero einote dero
aha nili, den phisioligi zihent daz er nieht des
neuerdeuue des er ferslindet, nieht mera danne hie in
disen seuuen diu scarba. ih pin ouh uuorten also der
nahtram in den husgeuellen da imo gesuase ist, uuanda
mennisgo da neist.“
- Wortgetreu
Von {den} Säufze und von {der} Kar bin ich so mager
sam-so {der} Pelikan, der in Ägypten fliegt in der
Einöde der Ache Niles. Den Physiologen {be}zeihent dass
er nicht des ni-verdaue des er verschlindet, nicht mehr
denn hie in diesen Seen die Scharbe. Ich bin auch
{ge}worden also der Nachtram in den Hausgefällen da ihm
geschwäs ist, wand {der} Mensch da nist.
- Übersetzung
Von den Seufzern der Trauer bin ich so mager, gleichsam
der/dem Pelikan, der über Ägyptens Einöde nahe dem
Gewässer des Niles fliegt. Die Naturforscher meinen,
dass er das nicht verdaut das er verschlingt, nicht
mehr/anders, denn in den hiesigen Gewässern die
Scharbe. Auch wurde ich (Auch fühle ich mich) als/wie
der Nachtrabe/Rabe in den Ruinen
häuslich/abgeschieden/allein, solange da der Mensch
nicht ist.
Von den Säufze
(wörtl. Übertragung [Plural von ahd. „sûftod“ - mhd.
„sûft-“ (+ Umlaut) „siuft- > siufz-“ - nhd. „säufz- /
seufz-“])
und von {der} Kar
(Kar = Trauer [Dativ von ahd. „kara“ / aobd. „chara“ -
Vergl. auch „Kar-freitag“ oder engl. in „care“])
bin ich so mager sam-so
(gleichsam, wie-so, eben-so etc. [ahd. „samasô“])
dem Pelikan, der in Ägypten in der Einöde der Ache
(Ache = Gewässer. Veraltet, z.T. noch in geographischen
Namen „Steinach, Aichach“ [ahd. „aha“ - mhd. „ahe“],
urverwandt zu „Aue, Au“ [ahd. „auwa, ouwa“ - mhd.
„ouwe“])
Niles fliegt - Den Phisiologi
(Naturforschern [Akk. Plural von „phisiologus“ - wurde
ahd. auch übersetzt mit „naturosago – Natursager“])
{be}zeihent
({ver}zeihen – zeihent, {be}zichtigend [Akk. Plural von
ahd. „zîhan, zîhen“ | die Berührungen von ahd.
„zougan, zougen“ [von älterem, vorhochdeutschem „at-
augjan > [a]taugjan“ wörtl. zu-äugen - ahd. „zougan,
zougen“ - mhd. „zöugen“ - nhd. „zäugen / > zeugen / >
zeigen“], sowie „zeigon“ und/oder „ziugon“ etc.
auseinanderzuhalten bleibt ein Unding *schnauf*)
dass er nicht des/das ni-verdaue
(doppelte Verneinung)
das (des/dessen) er verschlindet.
(verschlingt [3. P. von ahd. „farslintan, ferslintan,
firslintan“ - mhd. „verslinten“ - nhd. „verschlinden“
ist veraltet)
nicht mehr
(ahd. „mêr, mêra“ hier im Sinne von „weiter, anders“
[keiner weiteren Deutung mehr])
denn hie
(etwa noch in „hie und da“, an sich ahd. „hia, hie /
hiar, hier“, s. auch „dâ / dâr“)
in diesen Seen die Scharbe. Ich bin auch {ge}worden
also der Nachtram
(ahd. „nahtraban, nahtrabo > nahtram [hrabn-, rabn- =
bn > m]“, auch mit „nahtfocal“ übersetzt, üblich für
einfaches „Rabe, Raben“. Gerade in Namen ist die Form
„Ram“ noch aufzufinden, ausgehend von seiner Lautung
aber auch mundartlich anzutreffen)
in den Hausgefällen
(ahd. „hûs – gafelli, gefelli“ / aobd. „hûs – kafelli,
kefelle“, schöne eigensprachliche Übertragung die dem
lat. Vorbild aber wieder weichen musste)
da
(an sich bräuchte es dazu wirklich keine Erläuterung,
aber wie ich in „dâ / dâr“ beinahe in die Irre führen
könnte, denn heute gibt es zweierlei „da“, einmal
räumlich von germ. „þâr-“ - ahd. „thâra, thâr > dâra,
dâr“ - mhd. „dâr > dâ > dô“ - nhd. „da / dar-“ [„dar-
um“] (analog etwa germ. „hwar-“ - ahd. „hwâr > wâr“ -
mhd. „wâr > wâ > wô“ - nhd. „wo“ [„war-um“]), einmal
zeitlich von ahd. „dô“ - mhd. „dô, dâ“ - nhd. „da“ .
Die verschiedenen Formen fielen schon früher gerne
zusammen, weswegen es nicht immer einfach ist sie genau
zu scheiden)
ihm geschwäs
(ahd. „gaswâsi, giswâsi“ / aobd. „kaswâsi, keswâsi“ -
mhd. [+ Umlaut] „geswæse“ - nhd. „geschwäs“ veraltet.
„swâs-”“ für sich allein scheint ganz verloren gegangen
zu sein. Anfänglich dachte ich auch an eine Berührung
von germ. „swôt-“ - ahd. „swuozi > suozi“ - mhd.
„süeze“ - nhd. „süß“, dh. die schriftbildiche
Berührung, welche sinngemäß hier nahe liegen könnte,
dass sich der Rabe in stiller Verborgenheit “wohl,
angenehm” fühlen mag, allerdings ist der negative
Aspekt hier nicht zu übersehen. Dieses „gesuase /
geswâse“ meint „abgeschieden/für-sich-allein-seiend“)
ist, wand
(sowenn, weil, darum [ahd. „wanta“ verwandt zu Wand,
winden, Wende, Wendung])
{der} Mensch
(das ahd. „mennisco“, so wörtlich Mensch an sich
bleibt, würde „[der] Männische“ die Herkunft noch
verdeutlichen)
da nist
(ni-ist [anstelle des heutigen nicht bildete ahd. „ni,
ne“ die gängiste Form der Verneinung, zumal „nicht“
wortgeschichtlich weniger für sich allein steht - ahd.
„niwiht / niowiht“ = „ni, ne / nio + wiht“. Das „nêo >
nio“, unser „nie“, beinhaltet diese alte Verneinung
ebenso „ni, ne“ + „êo > io“ als Verneinung von „je“, wo
der alte Zwielautcharakter „ie“ bald aufgegeben wurde,
und das i zum Halbkonsonanten j wurde.] Besonders in
den sog. zimbrischen Mundarten – über Jahrhunderte
konservierten diese zeitweise isolierten Siedlungen in
den Alpen ein Deutsch, dem sogar heute noch
althochdeutsche/altbairische Eigenschaften zu entnehmen
sind – hört man noch ein „nist“, obschon hier durch
romanischen Einfluss das h umgelautet sein möchte,
trotz Unsicherheit sei es hier angefügt.)
Ich hoffe diese allein wortgeschichtliche Aufgliederung
des Textes hilft a Bissle.
Beste Grüße, Manuel