Hallo,
meine Oma hatte eine vaskuläre Demenz, und ich habe von ihr unglaublich viel gelernt. Sie hatte glücklicherweise die Gabe, sich sehr vertrauensvoll in Situationen hineinzufinden und eine sehr offene, gastfreundliche Art, die ihr erhalten blieb. Was mehr und mehr in den Hintergrund trat, war ihre früher durchaus auch energische Art.
Ich habe eine Zeitlang in ihrer Stadt gewohnt und sie regelmäßig im Altenheim besucht.
In unserer Familie hat niemand ein Drama daraus gemacht, dass sie uns nicht mehr erkannte, auch ihre Kinder nicht, und sie machte es uns leicht, weil sie uns erstaunt fragte: „Wer bist du denn?“ und sich dann freute.
Es war mit ihr ganz intensive Nähe möglich, sie hat es geliebt, in den Arm genommen zu werden und uns etwas Gutes zu tun (etwas anzubieten, uns zu drücken oder zu streicheln).
Mein Eindruck war: Sie wusste und merkte, dass sie vieles nicht mehr einordnen konnte, aber ich glaube, über weite Strecken fühlte sie sich gut aufgehoben und geborgen. Sie konnte schon immer auch über sich selbst lachen und eigene oder fremde Versehen mit Humor nehmen. Ihr Veranlagung war da Gold wert.
Schlimm war es vor allem in ihrer letzten Zeit. Da kamen ihr wieder die Kriegsängste ihrer Kindheit, und sie konnte sich selbst ja nicht davon distanzieren. Das finde ich sehr grausam.
Ich glaube, das Erleben einer Demenz kann sehr unterschiedlich sein, je nach Charakter und je nach Verlauf der Demenz, die ja den Charakter auch sehr verändern kann. Am schlimmsten stelle ich mir die Zeit vor, in der man noch so sehr selbst merkt, was man nicht mehr kann.
Und ich finde Deine Frage sehr wichtig, denn ich habe oft den Eindruck, dass das Erschrecken bei der Begegnung mit jemandem mit Demenz und der Ausruf „Wie ist das schlimm!“ vor allem das eigene Erschrecken ist. Und manchmal geht darüber der Blick darauf verloren, wie es dem Erkrankten selbst geht: Worunter leidet er? Wie ist seine Stimmung? Vielleicht fühlt er sich mit Situationen wohl, die uns unmöglich vorkommen, und leidet an Dingen, die wir für harmlos halten.
Ich will ganz sicher nicht die schlimmen Seiten dieser Krankheit wegreden - aber umgekehrt kann einem auch die Einstellung „Das ist so schlimm!“ den Blick verstellen dafür, wo es Dementen gut gehen kann. Ich würde mir, falls mir so eine Krankheit bevorsteht, jedenfalls einen kräftigen Schuss von den Gaben meiner Oma dafür wünschen.
Viele Grüße,
Jule