Und ich hatte völlig übersehen, dass man Dir von der Sierra de la Contraviesa nichts mehr vorzuschwärmen braucht, die ja bloß die mit weniger verschiedenen Farbtönen sozusagen die abstrakte Schwester der Alpujarras ist, die Du bereits gut kennst…
Heute Nachmittag im Garten ist mir zu dem Blüten-und-Jahreszeiten-Thema eine Landschaft eingefallen, die im Mai sehr reizvoll sein muss: Das Têt-Tal zwischen Mont-Louis und Serdinya und benachbart in die andere Richtung das Sègre-Tal bis Latour de Carol. Oben ist richtig Hochgebirge mit Schnee bis in den April hinein, unten Mittelmeerklima mit Agaven und Opuntiengestrüppen am Weg. Ich war dort im September, kann mir den Mai nur ungefähr vorstellen als schon regelrecht sommerlich auf den Wanderwegen z.B. ab Olette beiderseits des Tals, u.a. zu einem beinahe verlassenen Dorf, das Tante Gugel nicht findet, weil es den schönen Namen En trägt, und gleichzeitig als ganz zarten ersten Bergfrühling, wenn man z.B. von Latour de Carol zur das ganze Cerdagne-Becken dominierenden Santa Maria de Belloc hinaufsteigt und im Abwärtsweg im „Römischen Bad“ bei Dorres Halt macht: Einer Reihe von Becken mit heißem Thermalwasser, wie ein Dorfschwimmbad einfach so auf der Wiese.
Weil an dieser Stelle der Pyrenäen die Schichten durch die Auffaltung des Gebirges fast senkrecht stehen, ist alle paar Kilometer ein Ort, an dem heißes leicht schwefliges Thermalwasser nach oben drückt. Wunderschöne Thermalbädchen mitten in der Landschaft, kein Schickimicki, keine Effekthascherei und Reklame-Geschrey: Hauptsächlich Dorres, Llò und Saint Thomas, aber auch zwei Stellen, die ich hier nicht verraten mag, weil sie ziemlich sensibel sind, wo ganz einfach mitten im Wald ein paar Tümpel mit Thermalwasser sind: Wenn da die Säälfiiie-Horden einfallen, ist bald alles kaputt.
Die Verbindung zwischen diesen Orten wird mit dem „Canari“ hergestellt, der ersten Eisenbahn außerhalb von Städten, die von Anfang an für elektrischen Betrieb ausgelegt war - die Alternative wäre ein Zahnstangenbetrieb gewesen, der bei permanent 7 Prozent Steigung über (wenn ich mich recht erinnere) etwa zwanzig Kilometer doch zu aufwändig eingeschätzt wurde. Der Strom für den Betrieb des Canari kommt aus Talsperren, die direkt an der Linie liegen. Ein Teil der Kurse wird bis heute mit den Triebwagenzügen von 1910 gefahren, die in den 1950er oder 60er Jahren mal neue Motoren und einen Aufbau aus Metall (statt vorher Holz) bekamen. Die haben - anders als die modernen, komfortableren Triebwagen aus diesem Jahrhundert - zwischen Trieb- und Steuerwagen jeweils einen offenen Aussichtswagen, man sitzt auf lackiertem Holz (wegen Wetterfestigkeit) recht bequem und sozusagen mitten in der Landschaft.
Als trittsicherer Bergwanderer solltest Du Dir die Gorges de Carançà nicht entgehen lassen.
Quartier nehmen täte ich in Latour de Carol, um Zugang einerseits zu den noch „strenger“ in Richtung Hochgebirge gehenden Wanderwegen ab l’Hospitalet (z.B. Etangs de Siscar) zu haben, aber auch zu dem sehr hübschen (und auch keineswegs überkandidelten) Städtchen Puigcerdà mit einem wunderschönen Sonntagsmarkt und bei Bedarf auch noch die spanische Seite (z.B. Nuria - Llò) mitzunehmen: Nach Nuria hinauf fährt ab Ribes de Freser eine Überlandstraßenbahn, die dort, wo es zu steil wird, kurz anhält und den Zahnstangenantrieb runterlässt - ich weiß nicht, ob es sowas irgendwo anders gibt.
Die Gastgeber, bei denen wir damals gewohnt haben, vermieten nicht mehr über Gîtes de France, so dass ich sie Dir nicht ans Herz legen kann - aber es hat in Latour de Carol einiges, was über Gîtes de France geht.
Last, but not least ein Ort, der angesichts des aktuellen politischen Zustands der Welt Hoffnung und Zuversicht gibt: Llìvia, ein spanisches Städtlein, das rundum von Frankreich umgeben ist und Verbindung nach Spanien über ein paar Kilometer Landstraße unter internationaler Verwaltung hat. Dieses Kuriosum geht auf eine schlampige Formulierung im Traité des Pyrénées von 1659 zurück: Als nach erfolgter Umsetzung der Bestimmungen des Vertrags die Franzosen die Spanier fragten, warum denn in Llìvia immer noch spanisches Militär sei, obwohl doch sonst alles vertragsgemäß durchgeführt wäre, verwiesen die Spanier darauf, dass in dem Vertrag stand, dass die Cerdagne französisch werden sollte, aber „die Städte“ an Spanien fallen sollten. Dass nicht nur Puigcerdà, sondern auch Llìvia Stadtrechte hatte, hatte man in Paris nicht bedacht.
Und seither wurde quer durch alle kriegerischen Händel und politischen Unsinn immer das kleine Stückelchen Spanien in Frankreich respektiert. So geht es offenbar auch.
Ich hoffe, es ist nicht zu aufdringlich, wenn ich noch ein paar „Appetithappen“ dranhänge:
Schöne Grüße
MM