Dialekt und Dialekt
Hallo, ihr Dialektiker!
Zu diesem Thema - und benachbarten - hat Bausinger, der Erfinder der Empirischen Kulturwissenschaften in Tübingen, vor mehr als einem Jahr einen Vortrag in Radio gehalten.
Ist ein längerer Text, aber - wie ich finde - lesens- und bedenkenswert.
Gruß Fritz
_Prof. Hermann Bausinger
Mundart – Barriere oder Brücke?
Vor etwas mehr als 200 Jahren erzählte der Berliner Aufklärer und Reiseschriftsteller Friedrich Nicolai von einer österreichischen Gräfin, die eine bayrische Standesgenossin wegen ihrer Aussprache zurechtwies: „Liebe! Sollten’s halt nit so schlecht deutsch sprechen. Sprechen immer die Koaserinn, muss hoaßen die Kaaserinn". Das war in einer Zeit, in der es zwar längst eine einheitliche deutsche Literatursprache gab, in der die Aussprache aber noch nicht genau normiert war, so dass Viele ihre regionale Sprachfärbung für das korrekte Deutsch hielten. Hundert Jahre später wurde die „deutsche Bühnenaussprache" festgelegt, und heute ist die einheitliche Standardsprache so gegenwärtig, dass kaum mehr jemand Abweichungen von Kaiserin als richtig klassifizieren würde. Und doch finden sich nach wie vor genügend Leute, die, falls die Rede auf diese aussterbende Gattung kommt, von einer Koaserin oder Kaaserin sprechen und damit zumindest im bayrisch-österreichischen Raum auch gut verstanden werden. Es gibt eben nicht nur die Standardsprache, die oft auch als Hochsprache bezeichnet wird, sondern darunter eine Vielzahl und Vielfalt von Dialekten.
Dialekte, Mundarten sind die regionalen und manchmal lokalen, jedenfalls auf einen engeren Geltungsraum begrenzten Varianten der deutschen Sprache. Ihre Bedeutung und ihr Wert sind umstritten. Stellen sie eine Barriere dar, die nicht nur den Zugang zur Hochsprache behindert, sondern auch zu Lebensbereichen und Milieus, die durch die Hochsprache geprägt sind? Oder bilden sie nicht vielmehr in erster Linie die Brücke, die in sonst nur schwer zugängliche familiäre Bereiche führt und ein Gefühl der Gemeinsamkeit vermittelt? Die Frage - das sei vorweg verraten - ist wie die meisten Entweder/Oder-Fragen falsch gestellt. Aber immer wieder wurde und wird hier ein sich gegenseitig ausschließender Gegensatz konstruiert.
In den 1970er Jahren prallten die Positionen direkt aufeinander. Es war viel von Sprachbarrieren die Rede, die vor allem für Unterschichtkinder den gesellschaftlichen Aufstieg blockierten, und der Dialekt wurde als wichtiges Element dieser Sprachbarrieren betrachtet. Man konnte damals in Familien von Sprachwissenschaftlern und Pädagogen geraten, wo die Eltern quasi von einem Tag zum andern ein künstlich gedrechseltes Hochdeutsch sprachen, um Schaden von den Kindern abzuwenden und um ihnen frühzeitig Karrierechancen zu eröffnen. Zur gleichen Zeit entwickelte sich aber auch die Tendenz, der Mundart mehr Recht und mehr Raum zu geben, weil sie die Sprache der unteren Schichten verkörperte. Die Dialektdichtung, lange ein Reservat für sentimentale Naturgedichte und gereimte komische Episoden, wurde immer häufiger auf einen kritischen Ton gestimmt und griff ernste Themen auf. In den politischen Gremien der Kommunen und Landkreise wurde der Dialekt von manchen Diskussionsrednern demonstrativ herausgestellt. Und in den Schulen wurden Methoden entwickelt, um Kenntnisse im Dialekt für das Erlernen der Standardsprache nutzbar zu machen. Dies war gewissermaßen die Versöhnung der beiden Standpunkte, die eine entsprechend ausbalancierte Einschätzung erlaubte: Dialekt ja, aber keine Behinderung oder Blockade des Wegs zur Einheitssprache.
Heute ist dies die vorherrschende Einstellung. Aber sie sagt in dieser allgemeinen Form nichts darüber aus, wie die Akzente gesetzt werden; und außerdem haben sich die Rahmenbedingungen so stark verändert, dass sie auch radikalere Positionen begünstigen. Vor 30 Jahren war von Globalisierung noch kaum die Rede; inzwischen hat sich der Horizont so erweitert, dass es erstaunlich wäre, wenn dies nicht auch Rückwirkungen auf die Einschätzung sprachlicher Verhältnisse hätte. Uneinheitliche, oft gegensätzliche Rückwirkungen: Auf der einen Seite wird betont, dass die expansiven Tendenzen, die Ausweitungen ins Globale, ein Gegengewicht brauchen - wenn so oft von einem Europa der Regionen die Rede ist, dann steckt darin nicht nur der Versuch, Macht und Eigensinn der Nationalstaaten von unten her auszuhebeln, sondern dieses Modell verdankt sich auch der Einsicht, dass der weite Ausgriff einen festen und sicheren Rückhalt braucht; und in dieser Perspektive kommt dann auch den kulturellen Eigenheiten der Regionen, für welche unter anderem die Mundart steht, ein besonderes Gewicht zu. Auf der anderen Seite wird aus der Tatsache, dass unsere Kommunikationswege in immer größere Entfernungen führen, auch die Forderung abgeleitet, alles Kleinräumige zu entsorgen oder zu vergessen. Und das bedeutet dann auch, dass die Mundarten ihr Daseinsrecht verloren haben, dass es jedenfalls unzeitgemäß ist, für die Erhaltung der Dialekte einzutreten.
Manchmal wird auch gesagt, die ganze Debatte um die Mundarten sei ein Streit um Kaisers Bart, denn der Dialekt, jeder Dialekt, sei nun einmal ein Auslaufmodell, und streng genommen gebe es schon jetzt keine Mundarten mehr. Nun ist diese Einschätzung keineswegs neu. Als die Sprachforscher sich vor etwa zwei Jahrhunderten für die Dialekte zu interessieren begannen, erwuchs dieses Interesse aus ihrer Überzeugung, dass sie sich mit einem Gegenstand befassten, der in absehbarer Zeit verschwunden sein werde. In der fortschreitenden Alphabetisierung und der intensiveren Schulbildung, wie sie von den Aufklärern propagiert und gefordert wurde, sah man nicht nur die Möglichkeit der Annäherung an die Schriftsprache - man war vielmehr überzeugt, dass die Mundarten rasch verdrängt würden. Später waren es die durch die Industrialisierung ausgelösten Bevölkerungsbewegungen, von denen man das Ende der Dialekte erwartete; und vor allem den neuen Verkehrsmöglichkeiten schrieb man den Effekt zu, dass bald alle sprachlichen Formen begrenzter Reichweite ausgemustert würden. Im Rückblick erscheint diese Erwartung naiv: Die Leute fuhren mit der Eisenbahn ja nicht grundsätzlich in weit entfernte Gegenden; es waren keineswegs Alle unterwegs, und diejenigen, die eine Fahrt unternahmen, kamen in der Regel nach kurzer Zeit wieder zurück. Die Untergangsprognose hielt sich trotzdem. Nach 1871 wurde sie politisch begründet. Damals prophezeiten Sprachwissenschaftler, dass die „Volksdialekte" allesamt „in der allgewaltigen Schriftsprache" aufgehen würden. Auch das war eine Fehlrechnung. Zwar entstanden mehr und mehr nationale Institutionen, in denen ein gewisser sprachlicher Ausgleich zustande kam und in denen zwangsläufig die Einheitssprache dominierte; aber der föderative Aufbau des Deutschen Reichs beließ den Ländern ihr Gewicht, und für weitaus die meisten Menschen veränderte sich die alltägliche Kommunikation durch den politischen Wandel so gut wie gar nicht.
Seit zwei Jahrhunderten sind viele Dialektforscher davon überzeugt, dass sie ihre Ernte im letzten Moment einfahren, um sie in Wörterbüchern, Sprachatlanten und landschaftlichen Grammatiken, in jüngerer Zeit auch auf Schallplatten und Tonbändern zu speichern. Wer dies verfolgt, der steht auch den gegenwärtigen Untergangsprognosen einigermaßen skeptisch gegenüber. Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass sich bestimmte Rahmenbedingungen so verändert haben, dass daraus eine erhöhte Gefährdung für die Mundarten abgeleitet werden kann. Drei Stichwörter sind in diesem Zusammenhang anzuführen. Das erste: die Medien. Durch Bücher und Zeitungen kam die Standardsprache nur in schriftlicher Form zu den Menschen, die neuen elektronischen Medien tragen die Einheitssprache dagegen akustisch in jedes Wohnzimmer. Zweites Stichwort: Migration. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Millionen von Menschen aus anderen Landschaften und anderen Ländern hierher gekommen. Zunächst waren es die deutschen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, die ihre eigenen Dialekte mitbrachten, später die ausländischen Arbeitsmigranten mit ihren Familien, die Übersiedler aus der DDR und die aus Osteuropa kommenden Spätaussiedler. Für einen Teil dieser Zuwanderer war die deutsche Sprache fremd und zunächst unverständlich, fast alle aber waren jedenfalls mit den hier gesprochenen Mundarten nicht vertraut. Das dritte Stichwort: Mobilität, zielt nicht nur auf diese großen Bevölkerungsbewegungen, sondern auf die generelle Horizonterweiterung.
Der Arbeitsplatz ist in vielen Fällen nicht mehr gleich um die Ecke; weite Pendlerwege werden zurückgelegt; es gibt häufig berufliche Verlagerungen, und auch die Freizeitaktivitäten führen vielfach ins Weite. Und auch an die Mobilität der Konsumgüter ist zu erinnern, an die dadurch entstehende kontinuierliche Konfrontation mit fremden Dingen und auch fremden Bezeichnungen.
Es wäre fahrlässig, wollte man all diese Veränderungen als Belanglosigkeiten auf die Seite schieben; sie haben durchaus ihre Auswirkungen auf die sprachliche Situation. Aber es wäre auch fahrlässig, von solchen Szenen pauschal auf das Ende der Mundarten zu schließen.
Bei näherem Zusehen lassen sich nämlich auch die neueren Begründungen für den Rückgang oder gar für das Verschwinden der Dialekte relativieren. Die starken internationalen Einflüsse kreuzen sich mit dem alten Sprachbestand. „Jetz isch aber Dei Pizzale, gell“, mahnte kürzlich eine schwäbische Mutter ihre kleine Tochter; und das geht so leicht über die Zunge und in die Ohren, dass man auf das fremde Element in dieser Bemerkung erst einmal gestoßen werden muss. Und wer annimmt, dass die ausufernde Reiselust automatisch zur sprachlichen Neuorientierung führt, wird schnell widerlegt, wenn er sich der Exkursion eines Vereins oder auch einer Freundesgruppe abschließt und feststellt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mitten im Ausland ihren heimischen Dialekt als eine Art Schutzschild gegen das Ungewohnte in Stellung bringen.
Was die größeren Bevölkerungsbewegungen anlangt, so ergibt sich zum Teil tatsächlich eine Verlustbilanz. Dialekte wie das Ostpreußische oder das Schlesische werden meist nur noch in musealer Form bewahrt; selbst innerhalb der Familien der Heimatvertriebenen werden sie nicht mehr regelmäßig und von allen benutzt. Die Jüngeren, soweit sie hier die Schule besuchten, haben sich großenteils der Sprache der Mitschüler angepasst, was praktisch heißt, dass sie von einem Dialekt zu einem anderen übergegangen sind. Die ausländischen Arbeiter und ihre Familien leben überwiegend getrennt von der einheimischen Bevölkerung; die notwendigen Kontakte, etwa beim Einkauf, lassen sich mit wenigen deutschen Worten bewältigen. Aber die Jungen lernen nicht nur das Hochdeutsche in der Schule, sondern oft auch den örtlichen Dialekt im Umgang mit ihren Klassenkameraden.
Schließlich die Medien: Es ist richtig, dass sie - abgesehen von wenigen Sendungen in der Mundart und trotz einer gewissen Lockerung in den Vorschriften für Sprecherinnen und Sprecher - die Standardsprache präsentieren, so dass praktisch alle Zuhörer große Mengen von reinem (oder fast reinem) Deutsch aufnehmen. Aber das aktive Sprachverhalten wird damit nicht automatisch verändert. Mit Günther Jauch sprechen schließlich nur ganz wenige Millionärsanwärter, mit Sabine Christiansen nur wenige hochrangige Politiker - für das Gros des Publikums handelt es sich um eine Hör- und nicht um eine Sprechschulung.
Medien, Mobilität, Migration - keine zwingenden Todesursachen für die Dialekte. Die pauschale Feststellung, es gebe - schon jetzt oder bald - keine Dialekte mehr, ist ebenso falsch wie die Annahme, es habe sich auf diesem Feld überhaupt nichts geändert. Wenn ältere Leute klagen, man höre gar nicht mehr den richtigen Dialekt, dann ist dabei sicher sehr viel Nostalgie im Spiel, Heimweh nach der guten alten Zeit, auch wenn es die nie gegeben hat. Aber es ist nicht nur Nostalgie, sondern es werden auch konkrete Erfahrungen beigebracht. Am augenfälligsten - eigentlich müsste man sagen: am ohrenfälligsten - ist das Verschwinden von einzelnen Wörtern, die man aus dem Dialekt kannte; manche älteren Personen sind in der Lage, schnell eine lange Vermisstenliste herunter zu beten. Früher, so heißt es dann, hätten die Kinder mehr als ein Dutzend Ausdrücke für die Teile des Leiterwagens gekannt, heute wüssten viele nicht einmal mehr, was eine Deichsel ist - die Servolenkung dagegen sei ihnen vertraut. Das Beispiel zeigt: Es geht mehr um die Sachen als um die Wörter, und verwunderlich ist die Verschiebung nicht. Wenn Leiterwagen nicht mehr im Gebrauch sind, dann besteht kein Grund, die im Dialekt üblich gewesenen Benennungen für die Konstruktionsteile im Gedächtnis zu behalten.
Verschiedentlich stehen die alten Mundartbezeichnungen auch in Konkurrenz mit den kommerziellen Benennungen des Warenangebots: man kauft nicht gelbe Rüben, sondern Möhren oder Karotten. Auch der amtliche Sprachgebrauch verdrängt mundartliche Wörter. Wenn in Verordnungen ständig wiederholt wird, dass Radfahrer den Gehweg meiden müssen, dann kommt das Trottoir, das trotz seines französischen Ursprungs ein gängiges heimisches Dialektwort war, allmählich aus der Mode.
Mit den aus dem Gebrauch gekommenen Vokabeln lässt sich tatsächlich eine lange Verlustliste zusammenstellen, die nicht immer nur für den Dialekt gilt - aber im Dialekt spielten die abhanden gekommenen Wörter früher eine größere Rolle als in der Standardsprache. Die Neubildung von Dialektwörtern kann damit nicht Schritt halten; aber es gibt sie. Als der mühsame Vorgang des Dreschens mechanisiert wurde, bezeichnete man dies als maschine oder maschinere, für den Kühlschrank hat sich in manchen Gegenden die Bezeichnung Gfriere eingebürgert, und in entsprechender Weise wird die Spülmaschine als Spüle bezeichnet. Das sind seltene Fälle; die Dauerpräsenz der hochsprachlichen Wörter in Verkaufsangeboten, in der Werbung, auf Rechnungen und natürlich auch im Diskurs der Medien hindert die Ausbildung spezifischer Mundartausdrücke.
Aber es ist ja auch Mundart, wenn die betreffenden Wörter lautlich in die Mundart eingepasst werden. Für die Zukunft der Mundarten ist es nicht entscheidend, welche Dialektwörter zusammen mit den von ihnen bezeichneten Gegenständen verschwinden; entscheidend ist vielmehr, ob auch neue Gegenstände in den Dialekt einbezogen werden. Und dies ist weitgehend der Fall. Die meisten Schwaben, die ihren Wagen in die Werkstatt bringen, sind gar nicht in der Lage, Automobil standardsprachlich zu artikulieren; sie bringen ihr Audo, und sie lassen auch nicht neue Reifen aufziehen, sondern noch de Roife gucke. Und in der Pfalz kaufen die Leute nicht unbedingt eine Pfanne, sondern a Pann oder a Panne - auch wenn hier wegen der anderen hochsprachlichen Bedeutung des Worts Panne eine gewisse Bremswirkung vorhanden ist.
Auch die besonderen Lautformen der Mundart werden also nicht ganz ungestört von den Formen der Standardsprache verwendet. Wenn vom Rückgang oder Niedergang der Mundart gesprochen wird, dann wird gerade auch darauf hingewiesen, dass die Dialekte einiges von ihren Ecken und Kanten eingebüßt haben, also von den charakteristischen lautlichen Ausprägungen, die sie am deutlichsten von der Standardsprache, aber oft auch von benachbarten Mundarten unterscheiden. In einem Ort sagte man zwar nicht hochsprachlich Wurst, aber Wurscht, im Nachbardorf dagegen Wuuscht, ohne r, aber, die alten Leute registrieren es mit Bedauern, das r wird inzwischen der Wurst fast regelmäßig beigegeben. Das ist gewiss kein problematischer Wurst-Zusatz, und man kann deshalb doch nicht sagen, die Leute sprächen keinen Dialekt mehr. Noch einmal: Die korrekte Aussprache Wurst wird im allgemeinen nicht angestrebt und jedenfalls kaum einmal realisiert. Es ist nicht das Ende der Mundart, sondern der Übergang zu einem etwas weiträumigeren Dialekt.
Es ist ja nicht so, dass für das Sprechen nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung stehen: die Hochsprache, gewissermaßen die bel étage, und darunter die ebenso strikt normierte Mundart. Vielmehr gibt es innerhalb des mundartlichen Sprechens verschiedene Stockwerke, teilweise klar voneinander getrennt, teilweise auch ineinander übergehend. Man spricht von „Stufenleitern" des Dialekts. „I hao koi Zeit", sagt ein Schwabe von der Alb, wenn er die unterste Stufe wählt - vielleicht einfach weil er es so gewohnt ist, vielleicht auch bewusst, um seiner Abwehrhaltung Nachdruck zu geben. Die weiteren Stufen wären: „I han koi Zeit“; „I hab koi Zeit“; „l hab kei Zeit", „Ich hab kei Zeit"- spätestens an dieser Stelle glauben die meisten schon reinstes Hochdeutsch zu sprechen; in Wirklichkeit handelt es sich um das sogenannte Honoratiorenschwäbisch, und zur Standardsprache geht es noch einmal eine Stufe höher: „Ich habe keine Zeit ".
Die Existenz dieser Stufenleiter ist außerordentlich bedeutsam. Sie ermöglicht Variationen innerhalb des dialektalen Sprechens, bietet gewissermaßen verschiedene Höhenlagen an. Das gibt den Sprechenden die Chance, sich auf die jeweilige Situation einzustellen. Vergleicht man den heutigen Sprachgebrauch mit dem von früher, so liegt hierin der wichtigste Unterschied. Früher war die große Mehrzahl der Menschen gebunden an ihren Dialekt, man könnte sagen: verhaftet in der Mundart, die so und nicht anders war und nur wenig Spielraum gewährte. Heute gilt für die meisten, dass sie zwar in Schwierigkeiten kommen, wenn sie sich auf dem Niveau der Standardsprache, der Hochsprache, versuchen, dass sie aber durchaus vom ganz breiten Dialekt umschalten können auf ein ,höheres’, das heißt der Standardsprache näheres Niveau. Die Wahl des Sprachniveaus richtet sich zunächst einmal nach dem Adressaten, dem Gesprächspartner. Wenn ein Alemanne, ein Hohenloher oder ein Pfälzer einen Berliner vor sich hat, wird er nicht gerade den breitesten Dialekt wählen - es sei denn, er will demonstrieren, dass der Andere trotz seinem flinken Mundwerk nicht alles versteht. Die regionale Verortung des Gesprächspartners ist aber nur eine Bestimmungsgröße; es kommt auch darauf an, ob ich mit einer Frau oder einem Mann, einem Erwachsenen oder einem Kind, einem mehr oder einem weniger Gebildeten spreche. Außerdem ist die Sprachlage davon abhängig, worüber geredet wird. Bei Bauern und ehemaligen Bauern kann man beobachten, dass sie bei Erzählungen über ihre landwirtschaftliche Tätigkeit schnell in die ausgeprägteste Form des Dialekts fallen, von der sie sich entfernen, wenn sie über andere, private Erfahrungen oder auch über amtliche Zusammenhänge berichten.
In vielen Fällen ist die Variation so häufig und so lebhaft, dass es wenig Sinn macht, ein bestimmtes Niveau als die eigentliche Sprechweise eines Menschen festzulegen und alles Andere als Abweichung zu registrieren. Die eigentliche Sprechweise ist in vielen Fällen gerade ein Pendeln zwischen verschiedenen Sprachlagen. Jeder Sprechakt ist eine kleine Inszenierung - nur fällt das Inszenieren im allgemeinen nicht auf. Es gibt allerdings auch Beispiele für auffällige Inszenierungen. Dazu gehören die Anstrengungen, die sich manche Vereinsfunktionäre auferlegen, wenn sie in offizieller Funktion sprechen; sie bewegen sich dann auf einer Sprachhöhe, der sie nicht recht gewachsen sind, und man merkt ihnen die Klimmzüge an. Aber auch in der Gegenrichtung gibt es auffällige Inszenierungen, Klimmzüge nach unten, paradox gesprochen. Politiker, die sich normalerweise - abgesehen von einer leichten regionalen Einfärbung in Melodie und Lautformen - relativ sicher in der Hochsprache bewegen, lassen sich in manchen Konstellationen dazu verführen, demonstrativ mehr Dialekt in ihre Reden zu mischen.
Allerdings wird, was die Richtigkeit und ,Echtheit’ gesprochener Mundart anlangt, heute vielfach kein so strenger Maßstab mehr angelegt. Das hängt einmal damit zusammen, dass man geglättete Allerweltsmundarten häufiger als früher zu hören kriegt und dass sie sogar mit einem gewissen Prestige versehen sind. Früher sprach man gelegentlich von „Eisenbahnschwäbisch", „Bahnhofsalemannisch" und wie die Begriffe alle hießen - es waren abschätzige Bezeichnungen für einen halbgaren, verwässerten Dialekt, mit dem man nahezu überall verstanden werden kann. Heute gibt es vielerlei Instanzen, in denen gerade diese Sprechweise gepflegt wird. lm Rundfunk spielt eine - oft nur oberflächlich aufgesetzte - regionale Einfärbung der Sprache eine große Rolle, vor allem - aber nicht nur - dann, wenn Traditionelles aufgewärmt und Folklore kommentiert wird. In der Werbung werden den Adressaten Gegenstände nahegebracht, indem sie über die dialektale Einfärbung der Sprache als heimatlich und damit vertrauenswürdig deklariert werden. Auf dem Theater und im Kabarett braucht man eine mundartliche Sprechweise, die nicht nur in einer kleinen Region zuhause ist. Und wo Geistliche den Ehrgeiz entwickeln, im Dialekt zu predigen, sind auch sie auf eine artifizielle Ausgleichsmundart angewiesen. Ins Positive gewendet könnte man sagen, dass der Dialekt in solchen Fällen ein Stil- und ein Spielmittel ist, bei dem es nicht auf philologische Genauigkeit - also auf die Übereinstimmung mit den realen Dialektmerkmalen eines Orts oder einer Gegend - ankommt, sondern auf den bloßen Anklang vertrauter sprachlicher Töne.
,Echtheit’ der Mundart ist aber auch deshalb keine sehr realistische Forderung, weil das Mundartgefüge in Bewegung geraten ist. Wenn in einem Ort eine besonders auffallende Eigenheit (sei es die mundartliche Bezeichnung einer Sache oder eine spezifische Lautform) nur noch von ganz Wenigen aktiviert wird und alle Anderen sind auf eine andere Stufe des Dialekts weitergerückt - ist es dann sinnvoll zu sagen, dass nur noch jene Wenigen echte Mundart sprechen, womöglich mit dem Unterton, dass alle Anderen ein unechtes Sprachverhalten an den Tag Iegen?
Fragen wir abschließend vor diesem Hintergrund noch einmal, wie der heutige Gebrauch von Mundarten zu verstehen und zu bewerten ist. Die Schriftlichkeit und auch die Schriftsprache sind in unserer durchorganisierten Gesellschaft kaum zu umgehen; eine allzu strikte Bindung an die Mundart wirkt sich deshalb in der Tat als Barriere aus. Aber auf diesen Sachverhalt haben die Menschen längst reagiert, indem sie die von Sprachwissenschaftlern als Grundmundart bezeichnete Basis immer häufiger zurück lassen und sich stärker der Hochsprache nähern. Das Ziel ist kein verkünsteltes Amts- oder Bühnendeutsch, sondern die Fähigkeit, sich - durchaus mit mundartlichen Anklängen - auch dort verständigen zu können, wo Mundart nicht gefragt ist und Mundart allein nicht ausreicht.
Die Loyalität gegenüber dem heimischen Dialekt bleibt aber in weitem Maße bestehen, weil der Dialekt Möglichkeiten vermittelt, die der Standardsprache abgehen. Er ist in manchen Bereichen genauer und treffsicherer als die Hochsprache, weil er die Erfahrungen einer Zeit aufbewahrt, in der die Mundart für die meisten praktisch das einzige Verständigungsmittel war. Als eine Art sprachlicher Haus- und Freizeitkleidung erlaubt die Mundart mehr Lässigkeit und mehr Emotionen, schützt dabei aber vor zu großem Pathos. Vor allem aber ist die Mundart nach wie vor ein Zeichen der Zusammengehörigkeit - sie drückt Gemeinsamkeit aus und sie schafft Identität. Nicht in erster Linie über Festreden, sondern fast beiläufig: da wird keine Flagge gehisst und kein Trachtenkleid angezogen, sondern man spricht einfach, wie einem der Schnabel gewachsen ist und zeigt damit, wohin man gehört.
Diese Funktion steht nicht mehr so im Vordergrund wie in den 70er Jahren, als beispielsweise der regionale Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks am Kaiserstuhl in mundartlichen Liedern und Reden vorgetragen wurde; aber verschwunden ist sie nicht. Noch immer lebt in der Mundart auch ein Stück Widerspenstigkeit gegen jeden Zentralismus, gegen die Tendenz, über Vorschriften und Bestimmungen alles gleich zu machen. Natürlich muss in unserer Welt das Eigenrecht von Regionen und Kommunen auch offiziell und damit auch bürokratisch behauptet und durchgesetzt werden, also in der Domäne der Hochsprache - aber für den rebellischen Hintergrund steht vielfach, als Unterton, der Dialekt.
Sendung: Sonntag, 26. Januar 2003, 8.30 Uhr, SWR 2_