Anrede und Schluss in historischen Briefen

Hallo liebe Gemeinde,

ich hoffe, hier richtig gelandet zu sein. Sollte dieses Thema schon einaml aufgetaucht sein, so bitte ich um einen Link.

Meine Frage bezieht sich auf die Anredeform und den Schluss von Briefen in der Zeit um 1900, wenn man

  • fremde aber namentlich bekannte Personen
  • fremde und namentlich unbekannte Personen

anschreibt. Wer weiß, wie man diese richtig schrieb?

Ich freue mich schon jetzt über viele Zuschriften,

mfg

Theachen

Hochwohllöbliche gebenedeite Thea K.
Hallo -

ich bin kein Experte in solchen Dingen, aber als zufälliger Besitzer eines schweren zweibändigen Briefstellers aus den 20er Jahren würde ich als erste Antwortumkreisungshypothese mal formulieren:

Es war m.E. üblicher als heute, eine Person weniger mit ihrem Namen, als vor allem mit ihrem Titel und in ihrer offiziellen Funktion anzuschreiben (Oberamtsrat meinetwegen). Briefe, deren Empfänger weder mit Namen noch mit Titel (oder Amt) bekannt waren, dürften m.E. gar nicht so häufig gewesen sein. Das heute recht gängige „Sehr geehrte Damen und Herren“ dürfte von manchen sogar als tendenziell abwertend empfunden worden sein (i.S.v. „der meint mich ja gar nicht“). Auch dürfte - wenn überhaupt - die Einbindung der Damen öfter unterblieben sein, da Frauen einfach noch nicht so integriert in Institutionsstrukturen gewesen sind.
Häufig wurde wohl gar keine Person angesprochen, sondern z.B. das Amt als Institution - da gibt es zumindest in meinem Buch diverse Beispiele für.

Gegen- & Ergänzungsstimmen?

Hochwohloberlobsalbungsunterwurftranigst

Pengoblin

Hallo und erst einmal vielen Dank.

Nun, die Personen, die ich auf diese Weise anzuschreiben gedenke, besitzen weder Titel noch besondere Funktion (Stadtrat, …). Wie schreibe ich also solch eine Anrede, die an ganz normale Personen gerichtet ist?

Der Schluss ist dann übrigens auch interessant, das mfg ist sicher eine moderne Erfindung.

Theachen

Tach auch,

vielleicht genügen in diesem Fall schon Nuancen, um dem Ganzen den ‚Touch‘ der vorletzten Jahrhundertwende zu geben, z.B. statt „Sehr geehrter Herr“ das etwas altertümlichere „Sehr verehrter Herr“ und in der Schlußformel den Vorgänger des MfG „Hochachtungsvoll[st]“.
Jede ausführlichere und speziellere Anrede hätte in einem, wie Du sagst, eher amtsneutralen Kontext den möglichen Nachteil, gewissermaßen zuviel Gewicht auf diese Anrede zu legen. Bei Personen mit Titel oder Ämtern mag das seinerzeit gewünscht gewesen sein, um in der Anrede und im Schluß die Hierarchie zu bestätigen („Mit untertänigsten Grüßen…“) und dadurch Wohlwollen zu generieren, aber wenn’s hierarchieneutral sein soll, würde ich es tendenziell schlicht halten.

Beste Grüße,

Pengoblin

Servus,

dieses:

statt „Sehr geehrter Herr“ das etwas altertümlichere „Sehr
verehrter Herr“

kann ein Fauxpas sein: Mir sind noch aus den 1960er Jahren Werbeschreiben aus der Pharmaindustrie an meinen Vater bekannt, bei denen die Anrede hieß: „Sehr verehrte Frau Doktor, sehr geehrter Herr Doktor“ - eine Differenzierung nach Geschlechtern.

und dieses:

und in der Schlußformel den Vorgänger des MfG
„Hochachtungsvoll[st]“.

ist so nicht richtig. „Hochachtungsvoll“ war im XX. Jahrhundert eine normale Anrede ohne besondere Höflichkeit, etwa im Umgang von Behörden mit Bürgern.

Die Grußformel, die Respekt betont, hieß im XX. Jahrhundert „mit vorzüglicher Hochachtung“ (mir hat sie, auf Anraten eines Anwaltes, der den Richter und dessen Marotten kannte, noch 1978 die Einstellung eines Jugendstrafverfahrens wegen versuchter Strafvereitelung gebracht). Wegen des permanenten „Absinkens“ derartiger Formeln darf für die Zeit vor 1900 mindestens dieses erwartet werden.

Titel, Ränge und dergleichen sind sehr wichtig - etwa so, wie im Italienischen und im Kakanischen heute noch. Es wird also jedes Schreiben an eine Behörde wenigstens mit einem „Amtsrat“ versehen werden. Um die einzelnen Ränge muss sich gekümmert werden, es wäre nicht gut, einen Oberamtsrat oder einen Amtsdirektor mit Amtsrat zu titulieren.

Diese Formel

(„Mit untertänigsten Grüßen…“)

stellt eine Vermischung dar. Ein Untertan „grüßt“ nicht. Er befindet sich, falls er tatsächlich einen Herren und nicht seinen Beamten anredet, z.B. „in untertäniger Erwartung Eurer Erlaucht wohlwollenden Bescheides“. Oder er „verbleibt“ schlicht. Z.B., auch hier wieder im Umgang mit Feudalherren, „… Eurer Durchlaucht allergehorsamster Diener“.

Grußformeln dieser Art werden in französischer Korrespondenz (abgesehen von den Feudalformeln) bis heute verwendet. Eine Übersetzung Wort für Wort kann helfen, z.B. „…und bitte Sie, dem Ausdruck meiner distinguiertesten Gefühle Glauben schenken zu wollen…“

Insgesamt wichtig ist, nicht bloß in der Anrede, sondern auch im ersten Satz mit einem Adverb zu klären, wie die Verhältnisse liegen. In der Zeit nach 1918, als die feudalen Zöpfe erstmal abgeschnitten waren, hieß dies zum Beispiel „frage ich höflichst an“ oder „erlaube ich mir höflichst die Anfrage“ - hier würde auch, vor 1918, „untertänigst“ oder irgendwas anderes hingehören. Das militärische „gehorsamste“ Melden gehört hier hin.

Beiläufig: Unabhängig vom Text ist es wichtig, zum Ausdruck des Respektes einen sehr breiten linken Rand auf einem Gesuch zu lassen, praktisch bloß die rechte Hälfte des Blattes überhaupt zu beschreiben.

Schöne Grüße

MM

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Vielen Dank für diese hilfreichen Zeilen, die mir glatt einen Punkt wert waren.

Euch beiden gebührt mein herzlichster Dank, es ist wahrscheinlich ein nicht ganz einfaches Thema. Falls jemand noch etwas anfügen möchte, dann bitte per Email, denn ich denke nicht, dass dem hier noch etwas anzumerken sein könnte.

Danke,

euer Theachen

Servus,

ein’ hammer noch. Der zwar für die vorliegende Frage nicht so sehr informativ ist, aber die Bedeutung von Titeln, Ständen etc. ein wenig illustrieren kann, und auch ein bissel zur anderen Frage von heute „Behördendeutsch“ passt: Ein Einkommensteuerbescheid von 1912

http://www.directupload.net/file/d/996/5I74C2GF_jpg.htm

und die zugehörige Urkunde über vereinfachte Zustellung:

http://www.directupload.net/file/d/996/pj5RkJ8b_jpg.htm

Dabei finde ich interessant, wie wichtig Stand, Beruf, Titel selbst bei der Adresse auf dem Briefumschlag sind, und wie der im übrigen ganz dürr und formlos gehaltene Text des Bescheides von Personen, Diensträngen, Funktionen spricht - was er heute nicht mehr tut, obwohl die Begriffe bemerkenswert ähnlich sind, und auch die rätselhaften Wege der Veranlagung, bei der in ein und demselben Bescheid eine Ermäßigung und gleichzeitig ein Zuschlag festgesetzt werden…

BTW: Die Bilder werden bloß 200 Tage gespeichert, leider nix fürs Archiv.

Schöne Grüße

MM

breiter Rand
Hallo Martin

Danke für die interessanten Antworten.

Eine neue Frage hast du damit provoziert:

Beiläufig: Unabhängig vom Text ist es wichtig, zum Ausdruck
des Respektes einen sehr breiten linken Rand auf einem Gesuch
zu lassen, praktisch bloß die rechte Hälfte des Blattes
überhaupt zu beschreiben.

Was bedeutet denn solch ein breiter Rand (ursprünglich, später
möglicherweise sinnentleert oder umgedeutet) – gerade in Zeiten, da
Papier noch noch nicht die spottbillige Wegwefware von heute war?
Eine Lesehilfe?
Ein Platz für Notizen?

Rätselt
Rolf

Servus Rolf,

pur spekulativ, ohne es zu wissen:

(1) Vielleicht bewusste „Vergeudung“ von Stempelpapier, das der Durchlaucht noch ein paar Groschen Akzisen einbringt, wenn man einen zweiten Bogen braucht?

(2) Vielleicht ein optischer Hinweis darauf, dass das Wichtigste am ganzen Vorgang die unflätigen Kommentare sind, die Durchlaucht auf den Rand zu schreiben geruhen, und dass der eigentliche Text des Bittstellers daneben auf die Seite zu gehen hat?

Schöne Grüße

MM

Liebe Thea,

was noch gar nicht zur Sprache gekommen ist (und für die Zeit um 1900 wohl auch schon wieder aus der Mode), ist der Devotionsstrich: Ein Brief hatte tunlichst am oberen Rand einer neuen Seite zu enden, dann kam ein senkrechter Strich bis fast an den unteren Rand, und unter dem Ende dieses Strichs unterschrieb dann der Petent. Dieser Strich mußte möglichst lang sein, um dem Empfänger deutlich zu machen, daß der Absender sich für sehr weit unter dem Adressaten stehend hielt. Deshalb eben auch: Devotionsstrich.

Gruß - Rolf

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Liebe Thea,

was noch gar nicht zur Sprache gekommen ist (und für die Zeit
um 1900 wohl auch schon wieder aus der Mode), ist der
Devotionsstrich: Ein Brief hatte tunlichst am oberen Rand
einer neuen Seite zu enden, dann kam ein senkrechter Strich
bis fast an den unteren Rand, und unter dem Ende dieses
Strichs unterschrieb dann der Petent. Dieser Strich mußte
möglichst lang sein, um dem Empfänger deutlich zu machen, daß
der Absender sich für sehr weit unter dem Adressaten stehend
hielt. Deshalb eben auch: Devotionsstrich.

Hallo Rolf,

danke für diesen Hinweis, nur frage ich mich jetzt folgendes:

  1. ist es egal, wo dieser Strich verläuft (nahe des linken/rechten Randes, in der Mitte)?
  2. Was, wenn die Mitteilung kürzer ist und keine zweite Seite benötigt?

Wenn du mir dies auch noch sagen könntest, wäre ich dir sehr dankbar,

liebe Grüße

thea

PS: Eure Durchlaucht/Erlaucht sind hohen Persönlichkeiten vorbehalten, wie Fürsten etc., so mein Duden.

Servus noch einmal,

was die hohen und höchsten Herrschaften betrifft:

Erst nach 1918 umgab sie so ein Regenbogen-Nimbus. Mein Großvater war Pfarrer, zeitweise in Langenburg und zeitweise in Weikersheim. Die damaligen Hohenloher (nicht zu verwechseln mit den heutigen, Abkömmlingen einer obskuren katholischen Seitenlinie aus dem Baltikum) waren zwar tief dunkelblaublütig, aber weder reich noch irgendwie abgehoben. Da hörte man beim Krämer schon einmal - von Nachbarin zu Nachbarin: „Durchlaucht Frou Ferschde sehe awwer e weng meahliechd ous heid frie…!“

Vor ein paar Jahren hab ich bei der Aktionärsversammlung der Walder Bräu AG (Träger einer bis vor kurzem Familienbrauerei im Schwäbischen Oberland) den Erbgrafen von Königseggwald kennen gelernt - er ist wesentlich trinkfester als ich; als sich ein Mittrinkeraktionär von ihm mit „Guad Naacht, Herr Graf“ verabschiedet hat, fragte ich ihn, ob denn das bürgerliche „Herr“ eigentlich nicht eine seltsame Anrede für ihn wäre. Da meinte er „Saget Se oifach Erlaucht, dees roicht…“

Kurz: Richtig blaues Blut heute findet sich durchaus außerhalb von Monaco und ganz bodenständig. Ungefähr so kann man sich den Umgang mit Freiherren und Grafen vor 1900 vorstellen. Der ganze Larifari und Zinnober, der heute in der Regenbogenpresse darum gemacht wird, ist im wesentlichen eine Geburt des 20. Jahrhunderts. Nicht jeder marschiert so stramm von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen wie der Schorsch Waldburg und auch das Haus Hannover war einmal seinen Namen wert…

Schöne Grüßé

MM