Ein anderes Kapitelchen aus dem Roman. Ein arabischer Scheinüberläufer wird von der CIA unter die Lupe genommen. Einige Textstellen sind stilistisch von James Ellroy beeinflusst. Wer Ellroy kennt, weiß, welche ich meine.
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Washington, 2. November 2045
Der beste Wohnungsmakler der Vereinigten Staaten hatte Wort gehalten – die CIA. Sie hatte ihm eine Unterkunft aus den eigenen Beständen verschafft. Das entsprach der Tradition. Um Washington herum und vereinzelt auch im Stadtgebiet logierten unter falschen Identitäten viele Ex-Agenten und Ex-Funktionäre, die wichtige Geheimnisse ihres Landes an die Nachrichtendienste der USA geliefert hatten und dafür das Recht auf lebenslange Pension genossen. Natürlich würde er noch eine Zeitlang überwacht werden, zum Beispiel am Mod oder in der GloCom. Auch mit Stichproben durch unsichtbare Astralagenten musste er rechnen. Er durfte also nichts tun oder sagen, das verdächtig war. Damit konnte er leben – das Wichtigste war getan.
Ghali war in guter Stimmung. Dass er Lin hatte opfern müssen, war nur ein dünner Schleier über dem Glanz, der seine Seele belebte. Ghali, der spektakuläre Überläufer von der SSO. Ghali, der die amerikanischen Verifizierungstechniken genarrt hatte. Jetzt konnte er für ein paar Tage einen ruhigeren Gang einlegen. Er brauchte vor allem mal wieder eine Frau. Die er noch an diesem Abend haben würde. Per GloCom über eine Washingtoner Schnell-Kontakt-Agentur von der professionellen Art, die Callgirls lieferte. Zum Beispiel eine Blondine. Die CIA bezahlte ihm, wenn er wollte, zwei Mal im Monat die Kosten für diesen Service.
Ghali sah in einen Wandspiegel. Ihm sagte das neue Erscheinungsbild zu. Sein Gesicht war jetzt rasiert, ohne den Schnauzer. Ein Chirurg hatte seine Züge gestrafft, er schaute jünger aus. Die Haare waren gesträhnt, wie es in den Staaten seit Jahren verbreitet in Mode war. Sein Outfit war locker und bunt, wie es dem gängigen Trend entsprach. Draußen auf den Straßen trug er eine optisch neutrale Brille. Nicht mal seine Frau würde ihn so erkennen. Umringt von drei Kindern in ihrer Wohnung in Kairo wartete sie mit Angst im Herzen auf ihn. Heute Abend aber würde er sie betrügen. Allah möge ihm verzeihen. Er hatte sich eine Sünde inklusive Vergebung einfach verdient.
Durch akustische Spracheingaben aktivierte er GloCom. Einer der CIA-Leute hatte ihn mit der amerikanischen Version dieses globalen Netzwerks vertraut gemacht und verschmitzt auch ein paar Hinweise auf Sex-Agenturen gegeben. Ein anderthalb Meter hoher und zwei Meter breiter holografischer Laserscreen wurde vor einer Regalwand schwebend aktiv. Ghali ging die Optionen durch und sah schließlich ein dreidimensionales, digital generiertes Vorzimmer mit digitaler Empfangsdame vor sich, so als stände er an der Eingangstür. Er roch ihr Parfum. Sie trug hinter ihrem Schreibtisch ein legeres Jackett und hatte brünettes Haar. Ghali änderte einige Einstellungen. Jetzt saß die Empfangsdame auf dem Schreibtisch, schwarzhaarig und nackt. Diese Tricks kannte Ghali schon aus seiner Heimat, nicht aber den Realismus der Performance, der für ein menschliches Auge absolut täuschend war. Er wechselte auch das Parfum – irgendein Chambord Eleven, das ihn fast umhaute.
“Willkommen bei Personal Entertainment”, sprach sie ihn an. “Ich bin Chasey. Was kann ich für Sie tun, Mr. Hammadhi?”
Das war sein neuer Name. Arbeitsloser Versicherungskaufmann. CIA-angefertigte Legende. Er räusperte sich. Er hatte die eigene Cam nicht eingeschaltet, war also für PersEntertain unsichtbar.
“Ich – ah – ich würde gerne eine junge Dame auf ein – ah – Gespräch einladen. Eine Unterhaltung. Sie verstehen schon.”
Er war nervös. Liebe gekauft hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr.
“Natürlich verstehe ich Sie”, antwortete die nackte Chasey und sah keck auf ihre Brüste. “Bitte nennen Sie mir Ihre Präferenzen. Die Optionen sind links von mir zu erkennen.”
Neben Chasey erschien eine vertikale Reihe von Wörtern, deren verschnörkelte Buchstaben pulsierten und glänzten. Alter, Haarfarbe, Figur und all das. Plus sexuelle Vorlieben. Ghali traf seine Wahl. Dann erschienen auf Chaseys anderer Seite kleine holografische Köpfe mit etwas Text daneben: die gegenwärtig in Washington verfügbaren Damen, auf die die gewählten Merkmale zutrafen und die im Dienst von PersEntertain innerhalb von Stundenfrist Ghali aufsuchen könnten. Es waren zwei. Er entschied sich für Nancy. Sie würde das Honorar als digitale Gutschrift gegen Quittung von ihm selbst erhalten.
Er bedankte sich.
Chasey verabschiedete sich augenzwinkernd.
Er wartete angespannt. Seine Bar war gut ausgestattet. Er trank etwas Wein. Er holte einen Movie auf den Screen. Irgendeine Space-Opera mit viel Feuerwerk und Gewalt. Er konnte das Blut, das einem der enthaupteten Außerirdischen aus dem Hals quoll, förmlich riechen – ätzend und köstlich zugleich. Die Darstellung wirkte bis ins kleinste Detail natürlich. Zwei Minuten lang vergaß er sogar Nancy.
Die dann – nach einer dreiviertel Stunde – klingelte. Die Cam über seiner Wohnungstür zeigte aber nicht die Blondine von vorhin. Die hier war ein ähnlicher Typ, das allerdings. Er fragte nach.
“Ich bin Eileen von PersEntertain”, hörte er ihre Stimme über das Türmikro, eher flüsternd als sprechend. “Tut uns leid. Nancy ist zeitlich indisponiert. Ich soll sie vertreten. Ich werde Sie nicht enttäuschen.”
Er öffnete die Tür einen Spalt. Sie war Anfang Zwanzig. Sie lächelte. Sie war hübsch. Sie trug enge Lederklamotten. Sie hatte langes, blondes, zu Korkenzieherlocken gedrehtes Haar. Ein Täschchen hing um ihre Schulter. Sie zeigte eine Firmenkarte. Er sah kurz darauf und ließ sie eintreten. Er führte sie ins Wohnzimmer. Er schaltete die interstellare Blutorgie weg und orderte bei der Multimedia sanfte Disco-Musik. Er orderte auch Jasmin-Duft. Dann bot er Eileen Getränke an. Sie lehnte ab und setzte sich in einen kühn geschwungenen Sessel.
“Sie wünschen meine Unterhaltung für eine Stunde”, sagte sie freundlich. “Möchten Sie zur Einstimmung eine Marihuana-Zigarette?”
Er bestätigte die eine Stunde. Das musste reichen. Nur etwas Entspannung. Mehr nicht. Er hatte Familie.
Die Zigarette nahm er an. Die amerikanischen Legal-Joints waren easy. Da kannte er aus Ägypten stärkeren Tobak. Er rauchte. Er trank von seinem Wein. Eileen entledigte sich schrittweise ihrer Kleidung. Auf-den-Mund-Küssen war nicht inclusive, sonst aber alle als natürlich geltenden Praktiken. Sie rückte neben ihn auf die Couch. Sie streichelte ihn an verschiedenen Stellen. Er streichelte sie. Dann sagte sie:
“Ich habe einen ganz besonderen Leckerbissen dabei. Du hast doch sicher von SynC gehört?” Sie kniff die Augen in ironischer Konspiration zusammen. “Unter den Kennern der Lust hat SynC den Ruf eines Zaubermittels. Es steigert die Wonnen um ein Vielfaches. Ich schwöre. Es ist einfach unvergesslich. Um deine Gesundheit brauchst du dich auch nicht zu sorgen, Folgeschäden sind nicht bekannt.”
In Ghali gingen die Gedanken durcheinander. Bei allen Dämonen der Finsternis, damit hatte er nicht gerechnet. Die neue Teufelsdroge, deren Ruf bis nach Ägypten geeilt war, ohne dort schon in nennenswertem Maße im Umlauf zu sein. Die SSO war sich fast sicher, dass hinter der Produktion des SynC in nicht geringem Umfang die CIA steckte. Wie dem auch sei – warum sollte er einen Versuch nicht wagen? Die Umstände waren doch sehr günstig.
Sie nannte ihm den Aufpreis. Die Kosten wurden sowieso getragen – vom mutmaßlichen Hersteller. Er akzeptierte. Aus ihrer Tasche, die auf dem Tisch lag, nahm sie – jetzt nur noch mit einem Slip bekleidet – ein Döschen und aus diesem zwei blaue Pillen, von denen sie eine an Ghali reichte. Sie erklärte ihm in wenigen Sätzen die Wirkung der Droge. Einiges davon wusste er bereits. Um die Körper herumschweben und so – ungeheuerlich. Nur durch die Einnahme einer Chemikalie. Er steckte die Pille in den Mund und spülte sie mit Wein herunter. Auch sie schluckte ihre Pille. Sie zog ihren Slip aus. Sie lehnte sich zurück, während er sich entkleidete. Einige Minuten lang spielte er mit ihren Brüsten und ihrem Hintern, dann zog er ein Kondom über und drang in sie ein. Er genoss ihren gebräunten und elastischen Körper. Er betrachtete ihn genauer. Die Farben war ungewöhnlich. Er betrachtete den irisierenden Körper von allen Seiten. Er schwebte um ihn herum – und sah dabei sich selbst, wie er auf ihr lag.
Dann schlug alles über ihm zusammen.
Die Wonnen, die Farbekstasen, Eileens Stöhnen, das sich im Labyrinth seiner Seele in tausend Echos zu brechen schien – das war wunderbarer als alles, was er bisher erlebt hatte. Schließlich verging er in einer Explosion der Farben und Gefühle. Gleich darauf ebbte die Wirkung der Droge ab. Er war, noch keuchend, wieder verschweißt mit seinem fleischlichen Leib.
“Willkommen im Klub”, sagte Eileen und griff nach ihren Sachen. Er stand auf und ging ins Bad, noch ganz aufgewühlt von den letzten Minuten. Ihr Stöhnen hatte für ihn so echt geklungen – vielleicht nur aufgrund der phantastischen Wirkung des SynC. Er würde sie nicht danach fragen.
Einige Minuten später verabschiedete sie sich. Eine halbe Stunde vor Ablauf der vereinbarten Zeit. Er hatte es ihr gestattet. Über GloCom hatte er auf eines ihrer Konten einen Betrag transferiert. Sie ließ ihm eine Quittung zurück.
Sie lächelte und empfahl PersEntertain für weitere Dienste.
Dann verließ Eileen seine Wohnung.
Ihr Wagen war um die Ecke geparkt. Sie stieg ein und fuhr an. Sie dachte an diese Nancy, die heute Abend Geld verdient hatte, ohne dafür hinzuhalten. Dann griff sie zum Mod. Sie wählte die Nummer eines CIA-Agenten. Das Gespräch wurde chiffriert.
“Ich bin`s. Es hat geklappt. Jedenfalls von meiner Seite aus. Ich hoffe, das verdammte Gerät in meiner Tasche hat auch funktioniert.”
“Sehr gut, Val. Ich bin stolz auf dich. Komm sofort zum Treffpunkt.”
Val atmete durch und beschleunigte. Sie hatte während des GSV mit einem von der CIA kürzlich entwickelten Gerät Ghalis Auramuster aufgezeichnet. Es registrierte die hochkomplexen auralen Emissionen während eines SynC-induzierten Astralaustritts. Das erlaubte einen aufschlussreichen Abgleich mit den Aufzeichnungen, die von Ghalis Aura während einiger Verhöre gemacht wurden. Personen mit einer sogenannten Kirlian-Sperre – sie konnten den Kirliantest und oft auch Telepathen überlisten – hatten spezifische Merkmale in ihrer Aura, die erkennbar waren, wenn die Aura unter SynC-Einfluss aufgezeichnet wurde. Der SSO war dieses Verfahren noch nicht bekannt.
Vals eigene blaue Pille hatte natürlich keinen Wirkstoff enthalten.
Nicht während einer Undercover-Operation.
Sonst gerne.