Aufziehen

Hallo Leute,

weil hier grade alle so schön über die Vorsilbe „auf“ diskutieren, will ich doch auch meinen Senf dazugeben.

In Württemberg habe ich immer den Ausdruck gehört: Eine Mütze a u f z i e h e n . Ich hab’s einfach für schlechtes Deutsch gehalten. Oder ist das Schwäbisch? Nur zur Sicherheit: Bei uns sagt man "eine Mütze a u f s e t z e n .

Gruß

Irene

Hallo Irene,

In Württemberg habe ich immer den Ausdruck gehört: Eine Mütze
a u f z i e h e n . Ich hab’s einfach für schlechtes Deutsch
gehalten. Oder ist das Schwäbisch? Nur zur Sicherheit: Bei uns
sagt man "eine Mütze a u f s e t z e n .

Das sind eben Regionalismen, die falsch zu nennen, nur die eigene Regionalität, will in dem Fall sagen: Beschränktheit, zeigt.

Wir haben in diesem Brett eine FAQ:321, in der solche unterschiedlichen Benennungen, sowohl Nomen, als auch Verben und Adjektive aufgelistet sind. Ich bin sicher, wir haben nur einen sehr geringen Teil dieser Varianten gefunden.

Das sollte uns doch zeigen, dass wir alle Formen der anderen Dialekte eben hinnehmen sollten. Auch wenn wir heimlich lachen und sich unsere Fußnägel aufrollen.

Zu „aufsetzen“ gibt es auch noch einen Text aus Klemperers „Sprache des III. Reiches“. Wenn ich ihn finde, werde ich ihn hier einfügen.

Gruß Fritz

Ist vielleicht ein bisschen abwegig, aber ich finds bemerkenswert:

Aufziehen

Ich ziehe eine Uhr auf, ich ziehe die Kette eines Gewebes am Webstuhl auf, ich ziehe ein automatisches Spielzeug auf: überall handelt es sich um mechanische Tätigkeit, die an einem widerstandslosen, leblosen Ding ausgeübt wird.
Vom automatischen Spielzeug, dem drehenden Brummkreisel, dem laufenden und nickenden Tier, führt der Weg zur metaphorischen Anwendung des Ausdrucks: ich ziehe einen Menschen auf. Das heißt: ich necke ihn, ich mache ihn zur komischen Person, zum Hampelmann; Bergsons Erklärung des Komischen, es bestehe in der Automatisierung des Lebendigen, findet sich hier durch den Sprachgebrauch bestätigt.
Gewiß ist „Aufziehen“ in diesem Sinn ein zwar harmloses, aber doch ein Pejorativ. (So nennt der Philologe jede „verschlechterte“ oder verringerte Wortbedeutung; der Kaisername Augustus, der Erhabene, ergibt als Pejorativ den dummen August, den Zirkusclown.)
In der Moderne bekam „aufziehen“ eine zugleich lobende und doch entschieden pejorative Sonderbedeutung. Man sagte von einer Reklame, sie sei gut oder groß aufgezogen. Das bedeutete die Anerkennung geschäftlicher, werbungstechnischer Tüchtigkeit, war aber zugleich ein Hinweis auf das Übertreibende, das Marktschreierische, das nicht ganz dem tatsächlichen Wert der angepriesenen Sache Entsprechende eines Angebots. Vollkommen deutlich und eindeutig als Pejorativ trat das Verbum auf, wenn ein Theaterkritiker urteilte, der Autor habe die und jene Szene groß aufgezogen. Das hieß, der Mann sei mehr skrupelloser Techniker (und Publikumsverführer) als ehrlicher Dichter.
Ganz im Anfang des Dritten Reichs sah es einen Augenblick so aus, als übernähme die LTI diese metaphorische Tadelsbedeutung. Die nazistischen Zeitungen rühmten als patriotische Tat, daß brave Studenten „das wissenschaftlich aufgezogene Institut für Sexualforschung des Professors Magnus Hirschfeld zerstört“ hatten. Hirschfeld war Jude, und also war sein Institut „wissenschaftlich aufgezogen“ und nicht wahrhaft wissenschaftlich.
Aber wenige Tage später zeigte es sich, daß dem Verbum an sich nichts Pejoratives mehr anhaftete. Am 30. Juni 1933 erklärte Goebbels in der Hochschule für Politik, die NSDAP habe eine „Riesenorganisation von mehreren Millionen aufgezogen, in der ist alles zusammengefaßt, Volkstheater, Volksspiele, Sporttouristik, Wandern, Singen, und wird vom Staat mit allen Mitteln unterstützt“. Jetzt ist „aufziehen“ vollkommen ehrlich, und wenn die Regierung triumphierend Rechenschaft ablegt von der Propaganda, die der Saar-Abstimmung voraufgegangen ist, dann spricht sie von der „groß aufgezogenen Aktion“. Keiner Seele fällt es mehr ein, etwas Reklamehaftes in dem Wort zu finden. 1935 erscheint in deutscher Übersetzung aus dem Englischen bei Holle& Co. „Seiji Noma, Autobiographie des japanischen Zeitungskönigs". Dort heißt es mit voller Anerkennung: „Jetzt entschloß ich mich …, eine vorbildliche Organisation zur Erziehung studentischer Redner aufzuziehen.“
Die gänzliche Unempfindlichkeit gegen den mechanistischen Sinn des Verbums geht daraus hervor, daß es wiederholt von einer Organisation ausgesagt wird. Hier liegt eine der stärksten Spannungen der LTI offen: Während sie überall das Organische, das naturhaft Gewachsene betont, ist sie gleichzeitig von mechanischen Ausdrücken überschwemmt und ohne Ge- fühl für den Stilbruch und die Würdelosigkeit solcher Zusammenstellungen wie einer „aufgezogenen Organisation“.
„Fragt sich nur, ob man die Nazis für ‚aufziehen’ verantwortlich machen darf", warf mir F. ein. Wir hatten im Sommer 1943 Nachtschicht an derselben Mischtrommel für deutsche Tees, es war eine sehr anstrengende Arbeit, besonders in der Hitze, da wir des furchtbaren Staubes halber Kopf und Gesicht vermummt halten mußten wie die Chirurgen; in den Pausen nahmen wir Brille, Mundtuch und Mützen ab - F. trug ein altes Richterbarett, er war Landgerichtsrat gewesen -, saßen auf einer Kiste und unterhielten uns über Völkerpsychologie, wenn wir nicht die Kriegslage erörterten. Wie alle, die das Judenhaus in der engen Sporergasse bewohnten, ist er in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 zugrunde gegangen.
Von „aufziehen“ also behauptete er, es schon um 1920 in ganz neutraler Bedeutung gehört und gelesen zu haben. „Gleichzeitig mit, und ähnlich wie plakatieren“, sagte er. Ich erwiderte ihm, daß mir „aufziehen“ im neutralen Sinn von damals her nicht bekannt sei und daß mich die gedächtnismäßige Zusammenstellung mit „plakatieren“ doch auf pejorative Tönung schließen lasse. Vor allem aber, und dies ist nun eine Meinung, der ich prinzipiell in allen einschlägigen Reflexionen folge, vor allem komme es mir nie darauf an, die Erstmaligkeit eines Ausdrucks oder einer bestimmten Wortwertung festzustellen, denn das sei doch in den allermeisten Fällen unmöglich, und wenn man den ersten gefunden zu haben meine, der das betreffende Wort gebrauche, so finde sich immer noch ein Vorgänger hinzu. F. möge nur im Büchmann unter „Übermensch" nachsehen: bis auf die Antike werde das Wort zurückgeführt.
Und ich selbst habe neulich im alten Fontane, im „Stechlin“, einen „Untermenschen“ entdeckt, wo doch die Nazis so stolz auf ihre jüdischen und kommunistischen Untermenschen und das dazugehörige Untermenschentum sind.
Mögen sie ruhig darauf stolz sein, genauso wie Nietzsche trotz berühmter Vorgänger auf seinen Übermenschen stolz sein darf. Denn ein Wort oder eine bestimmte Wortfärbung oder -wertung gewinnen erst da innerhalb einer Sprache Leben, sind erst da wirklich existent, wo sie in den Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeitlang darin behaupten. In diesem Sinn ist der „Übermensch“ fraglos Nietzsches Schöpfung, und der „Untermensch“ und das unspöttisch neutrale „aufziehen“ kommen bestimmt auf das Konto des Dritten Reichs.
Wird ihre Zeit mit der des Nazismus abgelaufen sein? Ich bemühe mich darum, bin aber skeptisch.
Diese Notiz arbeitete ich im Januar 1946 aus. Am Tage nach der Fertigstellung hatten wir eine Sitzung des Dresdner Kulturbundes. Ein Dutzend derer, denen durch ihre Wahl besondere Kultiviertheit bezeugt worden ist und die nun also vorbildlich wirken sollen. Es ging um die Veranstaltung einer der jetzt ringsum üblichen Kulturwochen, u. a. um eine Kunstausstellung. Einer der Herren sagte, etliche der für die „Volkssolidarität“ gestifteten und nun in die Ausstellung einzubeziehenden Bilder seien Schinken. Sofort wurde ihm erwidert: „Unmöglich! Wenn wir hier in Dresden eine Kunstausstellung veranstalten, dann müssen wir sie auch groß und unantastbar aufziehen.“

Aus: Victor Klemperer, FTI (Lingua tertii imperii = Die Sprache des Dritten Reiches), S. 52f.

Fritz

Hallo, Fritz,
wobei wohl ursprünglich mit „aufziehen“ im Wortsinn das Heraufziehen des Uhrgewichtes gemeint war, damit es durch die ihm so verliehende potentielle Energie das Uhrwerk betreiben konnte. Sicher hat man dann von dieser Tätigkeit des Hoch-, Hinauf- Aufwärts-ziehens dieses Aufziehen auf den Vorgang des Ingangsetzens jeglichen Uhrwerkes verlagert, auch als längst Federwerke die Uhrgewichte als Antrieb ersetzt hatten.
Und dieses aufgezogen wurde dann überall dort, wo eine Feder gespannt wurde, die ein Werk antrieb.

Grüße
Eckard.

1 Like

Hallo Eckard und Fritz,

ist ja alles wahnsinnig interessant, und ich kann euch ja nur zustimmen, dass jede Sprache eine große Bandbreite an „richtigen“ Ausdrücken und Facetten hat. Ist ja auch gut so. Trotzdem war meine Frage eigentlich, ob es sich um einen in Württemberg allgemein bekannten Dialekt-Ausdruck handelt. Mein Mann, der dort aufgewachsen ist, kennt ihn nämlich nicht.

Gruß und Dank

Irene

Hallo, Irene,
haben wir uns wieder mal in Eloquenz verstrickt, der Fritz und ich.
Ich kann Dir jedenfalls aus Erfahrung berichten, dass „Zuig dei Kapp auf“ im Landkreis Biberach durchaus zum normalen Sprachgebrauch gehört. Allerdings hörte ich öfter „Tu dei Kapp auf“.
Woher dieser Sprachgebrauch stammt, kann ich nur vermuten. Man „zieht sich an“ wenn man das „Häs anduet“ und die Kappe gehört eben obendrauf, sie wird halt auf-gezogen.
Grüße
Eckard.

Das, lieber Eckard,

haben wir uns wieder mal in Eloquenz verstrickt, der Fritz und
ich.

ist eine schöne Umschreibung für unsere „verbale Inkontinenz“!

Und dann nochmal zu abwaschen :

Westniederdeutsch: abwaschen, spülen
Ostniederdeutsch: abwaschen
Sächsisch: abwaschen, aufwaschen
Thüringisch: abwaschen, aufwaschen, aufspülen
Hessisch: spülen, abwaschen
Rheinisch: spülen
Pfälzisch: spülen
Schwäbisch-alemannisch: spülen, abspülen
Fränkisch: spülen, abspülen
Bairisch: abspülen

Nach: Wörterbuch deutscher Dialekte von Ulrich Knoop,
der selber darauf hinweist, dass seine Angaben durchaus unvollständig sein können.

Gruß Fritz

Hallo !

Bei uns sagt man auch aufsetzen!

Aber - Aufziehen ist viel logischer. Ich ziehe eine Hose an, ich ziehe eine Jacke an.

Wenn ich eine Mütze aufsetze, ziehe ich sie mir über den Schädel, ansonsten würde sie wegfliegen beim kleinsten Windstoß.

Ich ziehe den Hut beim Gruß (Vor 40 Jahren). Ich setze ihn nicht etwa

Gruß max. ab!

Herzlichen Dank an alle Fachleute!

Gruß

Irene

In verschiedenen Gegenden zieht man eine Mütze an. bei uns allerdings setzt man dieselbe ebenfalls auf.

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Hallo Irene,

im „Saurüssel“ (Ecke Oberbayern, Niederbayern, Österreich) sagt man auf jeden Fall „eine Mütze aufziehen“, ganz normaler Dialekt, keine Schlamperei. Wie weit das verbreitet ist, kann ich jedoch nicht sagen.

Viele Grüße
Susi