Aussterben

Der Evolutionsdruck müßte dann ebenfalls vieldimensional sein

Das ist er ja auch.

und kann nicht gerichtet auf ein Fitness-Maximum hinweisen.

Natürlich kann er, aber er muß nicht. In Wirklichkeit zeigt er in Richtung des Fittness-Gradienten.

Mir ist aber unklar, wie eine Art sich aus einem
Fitnessmaximum entfernen kann.

Durch Mutation: Angenommen, die Art sitzt auf einem Fittness-Optimum, welches durch ein Minimum von einem weiteren Optimum getrennt ist. Theoretisch wäre das zweite optimum nicht zu erreichen, weil die Art in der Übergangsphase ihre Fittness verringern müßte. Mutationen führen aber dazu, daß nicht alle Individuen der Art exakt auf dem Optimum sitzen, sondern die Eigenschaften streuen normalverteilt um dieses Optimum herum. Eine Mutation, die zu weit vom Optimum weg führt, hat normalerweise Selektion zur Folge, es sei denn, sie landet zufällig in der nähe des zweiten Optimums. Wenn das der Fall ist, dann wirkt der Selektionsdruck auf die Nachkommen dieses Individuums nicht mehr in Richtung des ursprünglichen Optimums, sondern treibt sie auf das neue Optimum zu. Sollte dieses Optimum eine höhere Fittness bieten, als das ursprüngliche, dann kann dies auf lange Sicht dazu führen, daß sich die gesamte Population im neuen Optimum wiederfindet. Denn

Die Selektion (im weitesten
Sinne) sollte eine erfolgreiche Konstruktion bevorzugen.

Dies führt dazu, daß die Selektion die neue, Konstruktion zulasten der alten bevorzugt.

Hallo!

Mir ist aber unklar, wie eine Art sich aus einem
Fitnessmaximum entfernen kann.

Durch Mutation: Angenommen, die Art sitzt auf einem
Fittness-Optimum, welches durch ein Minimum von einem weiteren
Optimum getrennt ist… (gekürzt)

Also sprechen wir hier von den viel zitierten „Hopeful monsters“, von denen bei getrenntgeschlechtlichen zumindest zwei Partner entstehen müssen. Mir ist immer noch unklar (das konnten bisher die Lehrbücher auch nicht erklären), wie dann die Individuen in dem anderen Fitness-Maximum _angereichert_ werden, im ursprünglichen jedoch in immer geringerer Zahl auftreten. Immerhin wären es ja schon unterschiedliche Fortpflanzungsgemeinschaften.
Eine meiner Meinung nach bessere Erklärung für allmählichen Wandel gibt doch die Theorie der Günter-Nische sehr schön. Über die Nutzung der Umweltlizenzen durch Organismen sind die entsprechenden Nischen charakterisiert. Danach können Organismen derselben Biopopulation im selben Lebensraum auch unterschiedliche Lizenzen nutzen (was die innerartliche Konkurrenz verringert), und eröffnen somit die Möglichkeit, neue oder veränderte Lebensräume zu besiedeln und bewirken somit letzten Endes die Veränderung der Art bzw. ermöglichen die Artbildung.

Grüße,
Thomas

Mir ist immer noch unklar (das
konnten bisher die Lehrbücher auch nicht erklären), wie dann
die Individuen in dem anderen Fitness-Maximum _angereichert_
werden, im ursprünglichen jedoch in immer geringerer Zahl
auftreten.

Der Trick besteht darin, daß sowohl die Ausgangsform, als auch die Mutante immer noch derselben Population angehört. Da die Gesamtgrößer dieser Population durch die verfügbaren Ressourcen begrenzt ist, kann ein Wachstum der mutierten Teilpopulation nur auf Kosten der ursprünglichen Teilpopulation erfolgen.

Dies läßt sich auch völlig unabhängig vom Evolutionsmodell mit Differentialgleichungen beschreiben. Die Entwicklung einer Population kann in einem sehr einfachen Modell durch folgende Differentialgleichung beschrieben werden:

.
P=P(b-m\*P)

Dabei ist b die Geburtenrate und m*P die Mortalitätsrate, welche in unserem einfachen Fall linear von der Größe der Population abhängen soll. Wenn sich die Population P in zwei Teilpopulationen A (Ausgangsform) und M (Mutante) teilt, welche sich in Geburten- und Mortalitätsrate unterscheiden, dann wird die Entwicklung der Gesamtpopulation durch das folgende Differentialgleichungssystem beschrieben:

.
A=A[b<sub>A</sub>-m<sub>A</sub>(A+M)]
.
M=M[b<sub>M</sub>-m<sub>M</sub>(A+M)]

Eine Lösung dieses Differentialgleichungssystems zeigt, daß auch geringsfügiste Vergrößerungen des Verhältnisses von Geburts- und Mortalitätsrate (welches in diesem einfachen Modell der Fittness entspricht) dazu führt, daß sich die Mutante durchsetzt. In einer Beispielrechung dauerte es bei einer Steigerung der Fittness um nur 1% lediglich 100 Generationen, bis die Mutante von einem Anteil von 0,1% ausgehend die gesamte Population dominierte.

Immerhin wären es ja schon unterschiedliche Fortpflanzungsgemeinschaften.

Das wäre nur dann der Fall, wenn zwei Arten entstehen, was durch Mutation allein aber kaum passieren wird (hier kommt die Isolation ins Spiel). Bei geschlechtlicher Fortpflanzung wirkt zudem die Rekombination, welche eine Verbreitung des neuen Gens innerhalb der Population ermöglicht, ohne daß das alte verschwinden muß. Auf diese Weise kann eine Population einen umfangreichen Genpool anlegen, was eine große Flexibilität bei veränderten Umweltbedingungen ermöglicht. Mikroorganismen lösen dieses Problem durch horizontalen Genaustausch über Artengrenzen hinweg.

Moin

Vielen Dank erst einmal für die Ausführungen.

Der Trick besteht darin, daß sowohl die Ausgangsform, als auch
die Mutante immer noch derselben Population angehört. Da die
Gesamtgrößer dieser Population durch die verfügbaren
Ressourcen begrenzt ist, kann ein Wachstum der mutierten
Teilpopulation nur auf Kosten der ursprünglichen
Teilpopulation erfolgen.

Der letzte Teil ist schon klar. Allerdings gehe ich einmal davon aus, daß zu Mutationen auch eine Änderung der Menge der Ressourcen gehören kann. Beispielsweise gibt es zugleich einen Isolationsmechanismus, wenn Insekten, die in ihrem Fortpflanzungszyklus an eine Obstsorte gebunden sind (Eiablage in der Blütezeit, entwicklung der Larven während des Reifungsprozesses der Frucht), eine Mutante jedoch eine andere Obstsorte für sich erschließt. Die Mutante wäre dann ebenfalls in einem Fitnessmaximum und die ursprüngliche Population wäre in ihren Ressourcen nicht einmal eingeschränkt. (Über kurz oder lang kann dieses Szenario auch zur Artbildung führen, sofern die Obstsorten unterschiedliche Blütezeiten haben.)

Aber noch einmal zum allgemeinen Verständnis: Diese dreidimansionalen Fitnessdiagramme mit ihren Minima und Maxima beziehen sich dann also immer auf eine einzige Art bzw. Fortpflanzungsgemeinschaft? Bisher hatte ich diese immer so interpretiert, daß zwei Maxima gleichbedeutend ist mit unterschiedlichen Fortpflanzungsgemeinschaften.

Danke nochmal für die Erläuterung,
Thomas

Aber noch einmal zum allgemeinen Verständnis: Diese
dreidimansionalen Fitnessdiagramme mit ihren Minima und Maxima
beziehen sich dann also immer auf eine einzige Art bzw.
Fortpflanzungsgemeinschaft? Bisher hatte ich diese immer so
interpretiert, daß zwei Maxima gleichbedeutend ist mit
unterschiedlichen Fortpflanzungsgemeinschaften.

Erstens sind die dreidimensionalen Fittnessdiagramme nur ein hilfloser Versuch, die tatsächlich Verhältnisse vereinfacht darzustellen. Sie lassen nämlich nur die Variation zweier Eigenschaften zu, obwohl die Zahl der möglichen Parameter in der Natur beliebig hoch sein kann. Die Beschränkung auf zwei Eigenschaften ist dem Umstand geschuldet, daß der Mensch in maximal drei Dimensionen denken kann.

Zweitens sind diese Diagramme unabhängig davon, ob und von wem die lokalen Maxima besetzt werden. Ob es bei der Besetzung eines benachbarten maximums zur Bildung einer neuen Art kommt oder nicht hängt im Wesentlichen davon ab, ob gleichzeitig eine Isolation eintritt. Dazu zwei Beispiele:

Die Größe einer Kaninchenpopulation möge langfristig durch das Nahrungsangebot (sie mögen sich nur von Gras ernähren) und die Bedrohung durch eine Fuchspopulation begrenzt sein. Die Population befindet sich bezüglich des Schutzes vor den Räubern in einem lokalen Maximum, welches darin besteht, vor ihnen zu flüchten. Bei einem Kaninchen kommt es zu einer Mutation, weloche es ihm ermöglicht, den Räuber in die Flucht zu schlagen, was seine Überlebenschancen erhöhen möge. Es befindet sich nun auf einem benachbarten lokalen Maximum der Fittnessfunktion, welches höher liegt, als das der übrigen Population. Es gehört aber immer noch zur selben Art (es kann sich mit den anderen Kaninchen paaren) und zur selben Population (es bewohnt denselben Lebensraum). Da es bessere Chancen hat die neue Eigenschaft an seine Nachkommen weiterzugeben, wird die Teilpopulation der Killerkarnickel schneller wachsen, als die ursprüngliche. Da die Größe der Gesamtpopulation aber nicht nur von den Räubern, sondern auch vom Nahrungsangebot begrenzt wird, fallen die ursprünglichen Kaninchen der wachsenden Nahrungskonkurrenz der Mutanten zum Opfer. Am Ende besteht die Population nur noch aus Killerkarnickeln.

In derselben Kaninchenpopulation tritt eine Mutation auf, welche es dem Kaninchen ermöglicht, Möhren zu fressen (es ist wichtig, daß dabei die Fähigkeit Gras zu fressen verlorengeht). Mit der Erschließung dieser bis dahin unbesetzten ökologischen Niesche vergrößert sich die Gesamtpopulation, da das Wachstum der neuen Population nicht zulasten der alten geht. Am Ende haben wir zwei Kaninchenpopulationen, welche bezüglich der Nahrung unabhängig voneinander sind. Zur Artbildung kommt es dann, wenn die Teilpopulationen voneinader isoliert werden. Dies kann geschehen, indem gras- und möhrenfressende Kaninchen sich nicht mehr miteinander paaren wollen oder indem die Möhrenfresser sich in ein Gebiet ausbreiten, in dem es nur Möhren, aber kein Gras gibt. Nach der Isolation werden sich die beiden Populationen unabhängig voneinader weiterentwickeln und langfristig eine Artenbarriere aufbauen.