Hallo,
Dir ist aber schon bewusst, dass es den Islam nicht gibt,
sondern dass sich darin die verschiedensten Glaubensrichtungen
finden, welche teilweise extrem unterschiedliche Ansichten
vertreten.
Ja, das ist mir bewusst.
Das ist aber bei praktisch jeder irgendwie gearteten Strömung an der mehrere Menschen beteiligt sind der Fall.
Es gibt auch nicht DEN Kapitalismus oder DEN Kommunismus, noch nicht mal DEN Katholizismus.
Bei dieser Erkenntnis muss man aber wohl nicht stehen bleiben und daraus ein Verbot ableiten, Kennzeichen oder Unterschiede festzustellen.
Gibt es also wesentliche islamische Richtungen, bei denen sich in ihren grundlegenden Schriften keine dezidierten Rechtsvorschriften finden - mögen sie sich im Einzelfall auch unterscheiden?
ich bin mir sicher, dass sich kurz nach einem besonders
grausamen Kindermord eine große Zahl der Deutschen in einer
Umfrage für die Todesstrafe für Kinderschänder aussprechen
würde.
Was trägt das aber nun für das hier diskutierte Problem bei?
Unter welchen Umständen würde man denn heute in Deutschland wohl die Todesstrafe für Apostasie, Steinigungen oder das Abhacken von Händen fordern?
Es stimmt, dass auch in islamisch geprägten Ländern soziale Dynamik, Unbildung und Massenphänomene im Grundsatz nicht wesentlich anders ablaufen als sonstwo, aber es ist falsch erkennbare Unterschiede unter Relativierungen und Differenzierungen zu verbergen.
Ja, in vielen islamischen Ländern wird die Sharia nicht angewandt oder in unterschiedlicher Weise.
Das könnten wir nun sehr differenziert betrachten und Faktoren identifizieren.
Wir können aber mit großer Sicherheit aussagen, dass außer in islamisch dominierten Ländern, die Sharia nirgendwo angewandt wird. Und ohne mir sehr wagemutig vorzukommen, glaube ich einen Zusammenhang zwischen dem Einfluss fundamentalistischer islamischer Kräfte auf die Politik und dem Umfang von aus Koran oder nachgeordneten Quellen begründeten Rechtsvorschriften in der Rechtspraxis entsprechender Staaten erkennen zu können.
Und jetzt möchte ich noch etwas ganz Ketzerisches in den Raum
stellen: Angenommen, das ägyptische Volk würde in fairen und
demokratischen Wahlen eine Partei wählen, die im Vorfeld ganz
klar kundtut, dass sie im Falle eines Wahlsieges drakonischere
Strafen der genannten Art einführen möchte - wäre das dann
nicht Sache dieses Volkes? Oder dürfen sie nur demokratisch
sein, wenn sie gefälligst das wählen, was der Westen will?
Du hast die zur Auswahl gestellten Alternativen so gewählt, dass eigentlich keine Wahl mehr Möglich ist. Was heißt denn „dürften sie nicht“?
Ja sie dürften (mal abgesehen davon, dass es auch noch allgemeine Menschenrechte gibt, die ich von manchen Regelungen „der“ Sharia durchaus verletzt sehe), aber andere Länder müssten dann mit ihnen auch nichts mehr zu tun haben wollen.
Nun, ich habe u.a. Geschichte studiert und mich dabei auf
soziale Randgruppen im späten Mittelalter und der frühen
Neuzeit spezialisiert - glaube mir, wenn ich mich mit etwas
ausführlich beschäftigt habe, dann mit der Inquisition und der
Hexenverfolgung.
Dann wundern mich deine Aussagen noch mehr.
Ich widerhole meine Frage:
Du hälts also Gottesurteile und Reinigungseide wirklich für fortschrittlicher als einen Inquisitionsprozess?
Das ist nicht meine persönliche Einzelmeinung, sondern
eigentlich Konsens unter den Historikern, die sich damit
beschäftigen.
Tatsächlich habe ich mich mit der Bedeutung dieses Buches für die Rechtsgeschichte nicht beschäftigt, aber nach dem was ich davon kenne bin ich wirklich erstaunt sie in diesen Zusammenhang gestellt zu sehen und bin neugierig.
Gruß
Werner