„Prüfet alles, das Gute behaltet!“, von Bischof Gerhard Ludwig Müller, in: Die Tagespost 6.12.2011, S. 6
25 Jahre Instruktion Libertatis conscientia zur Befreiungstheologie.
Das Elend anderer um der eigenen Existenz willen in Kauf zu nehmen ist für Christen keine Option. Die Aufnahme zeigt einen Slum in Rio de Janeiro.
Für den im Februar 2012 erscheinenden Band Eschatologie der „Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften“ werden auch die Texte zur Befreiungstheologie aufgenommen. Vor 25 Jahren erschien die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die christliche Freiheit und Befreiung Libertatis conscientia, die vom damaligen Präfekten und dem heutigen Papst Benedikt XVI. unterzeichnet worden ist. Sie enthält die lehramtliche Bewertung der in Lateinamerika entwickelten „Theologie der Befreiung“. Eine Relecture lohnt sich und bringt die erstaunliche Weitsicht dieses Dokumentes ans Licht. Die persönlichen Äußerungen von Joseph Ratzinger über die „Theologie der Befreiung“ arbeiten die darin aufscheinende Tendenz heraus, die Theologie zu politisieren und die Kirche auf innerweltliche Aktivitäten zu reduzieren. Damit aber sah er das Wesen von Kirche und Theologie selbst infrage gestellt.
Es geht nicht um ein unreflektiertes Ja oder Nein zur Theologie der Befreiung, sondern um eine grundlegende Klärung ihrer positiven Ansätze und ihrer Grenzen und Gefahren. Theologie der Befreiung umfasst in ihren Ausarbeitungen eine Vielfalt von zum Teil gegensätzlichen Konzepten und Autoren. Im Grund geht es aber um die Frage, wie angesichts menschenunwürdiger Lebensverhältnisse die Botschaft von der Liebe Gottes, die umwandelnde Kraft des Evangeliums im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft wirksam werden können.
Jede Konzeption einer Theologie der Befreiung bleibt immer dann katholisch, wenn ihre Gesamthermeneutik die heilsgeschichtliche reale Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus ist, die der Kirche mit dem Glaubenssinn aller Gläubigen und ihrem Lehramt der Bischöfe und des Papstes zur treuen Auslegung übertragen worden ist. Beide Dokumente der Glaubenskongregation von 1984 und 1986 beabsichtigten, die „Befreiungstheologien“ davor zu bewahren, zu politischen Ideologien zu werden und damit ihren Charakter als Theologie zu verlieren. Die zweite Instruktion von 1986 will dazu vertiefte Unterscheidungen vorlegen: Sie verurteilt jene Tendenzen, die den Blick auf das Übernatürliche verloren haben und scheinbar aufgeklärten, letztlich aber mythologischen Sichtweisen von Befreiungsprozessen und Revolutionen folgen. Solche „Theologien“ waren letztlich bloß Überbau eines marxistischen Projekts. Die Instruktion hebt andererseits die authentische christliche Auffassung von Mensch und Welt hervor; so bereitet sie einer echten Theologie der Befreiung den Weg, die mit der Soziallehre der Kirche eng verbunden ist und gerade in der Welt von heute ihre Stimme erheben muss. Eine Sichtweise, die aus dem Glauben heraus die ganze, geschichtliche Wirklichkeit des Menschen, als Einzelner und in der Gesellschaft, wahrnimmt, bietet Handlungsorientierungen nicht nur für den einzelnen Christen, sondern auch auf der Ebene politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen.
Der moralische Sinn setzt den historischen Sinn voraus
Die Aussagen zur Christologie und Soteriologie, zur Gnadenlehre und Anthropologie können nicht existenzialistisch, politisch-revolutionär uminterpretiert und zu Chiffren eines gesellschaftlichen Programms zur Selbsterlösung degenerieren. Glaube darf nicht verkürzt werden auf die Aussage, dass er eigentlich nichts anderes ist als „Treue zur Geschichte“, „Hoffnung auf Zukunftsorientierung“ und anderes. In Wirklichkeit sind Glaube, Hoffnung und Liebe göttliche Tugenden, Gaben der Gnade, die aber die Verantwortung für Welt und Geschichte, die Option für die Armen notwendig zur Folge haben müssen. Gottes- und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen. Aber die Liebe zu Gott über alles existiert als eine eigene Wirklichkeit und richtet sich nicht an eine fiktive Person im Jenseits als Appell an ein sozial verantwortliches Handeln. In der patristisch-scholastischen Lehre vom verschiedenen Schriftsinn setzt der moralische Sinn den historischen Sinn voraus und fordert ihn, aber er geht in ihm nicht unter.
Ausgangspunkt der Instruktion ist das „Bewusstsein von Freiheit und der Menschenwürde“, das alle Menschen auf der ganzen Welt bewegt und eine „starke Sehnsucht nach Befreiung auslöst“. Da das Evangelium „aus sich selbst eine Botschaft der Freiheit und der Befreiung ist“ kann sich die Kirche diese Sehnsucht zu eigen machen. Ihr Urteilsmaßstab ist aber das Evangelium, die geoffenbarte Lehre von der Schöpfung und Erlösung und dem darin eingezeichneten Bild des Menschen in seiner Personalität sowie seiner Zuordnung zur Welt und zur Gesellschaft. Bei diesem absolut an Gott orientierten Ansatz des christlichen Menschenbildes ist jede Ideologie einer Selbsterlösung des Menschen ausgeschlossen.
Dies betrifft die kapitalistisch und marxistisch geprägten Fortschrittsideologien. Diese sind im Kern atheistisch angelegt, weil sie die Hinordnung des Menschen auf Gott als Ursprung und Ziel leugnen und als Entfremdung und Abhängigkeit diskreditieren. Diese menschenfeindlichen Systeme ersetzen die Gottesherrschaft durch die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Politische Atheismen enden zwangsläufig im Totalitarismus, also der Aufhebung der Freiheit und der Vernichtung der Menschenwürde. Dies belegt die reale geschichtliche Entwicklung im Kommunismus, aber auch in neoliberalen Wirtschaftssystemen, wo das Geld zum Selbstzweck wird – da wird Gott durch das Gold ersetzt, war der Vorwurf des Anwaltes der versklavten Indios, des Bischofs Bartolomé de Las Casas.
Die Freiheit des Menschen ist im Schöpfungs- und Erlösungshandeln des transzendenten Gottes begründet und hat eine transzendente Dimension. Somit kann die geschaffene Welt und die innerweltliche Zukunft nicht das letzte Ziel des Menschen sein und seine Berufung zum ewigen Heil und Glück ausmachen. Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, hat sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Lima 1986 einerseits kritisch mit der Befreiungstheologie auseinandergesetzt. Vor allem entlarvte er den „Mythos einer notwendigen und zugleich lenkbaren Entwicklung aller Geschichte zur Freiheit hin“ und die falsche Gegenüberstellung beziehungsweise das verkürzte Verständnis von Geschichte und Freiheit bei einigen Befreiungstheologen. Andererseits aber stellte er die weiterführende Frage: „Bedeutet nun der Realismus der christlichen Freiheitsidee, dass der Mensch sich resigniert in seine Endlichkeit zurückzieht und nur noch Mensch sein will? Keineswegs. Im Licht der christlichen Gotteserfahrung wird sichtbar, dass die unumschränkte Beliebigkeit des Alles-Könnens einen Götzen zum Modell hat und nicht Gott. Der wirkliche Gott ist Selbstbindung in dreifaltiger Liebe und so die reine Freiheit. Dieses Gottes Bild zu sein, ,zu werden wie er‘, ist des Menschen Berufung“.
Gerade die Abweisung eines Freiheitsbegriffs, „dessen Grundmaßstab die Anarchie und dessen Weg das systematische Beseitigen von Bindung ist“ mit der Unterscheidung von übernatürlichem Ziel und geschichtlicher Verantwortung gibt der christlichen Freiheit als Gnade eine unabschließbare Dynamik zur Gestaltung der irdischen Lebensbedingungen nach dem Maß der Menschenwürde, der Freiheit und Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen in den Familien, den Staaten und der Weltgemeinschaft. Ein Blick in die Heilige Schrift zeigt, dass die Bundesgeschichte eine Befreiungsgeschichte ist mit einer immer deutlicher hervortretenden Option Gottes für die Armen, Notleidenden und Ausgebeuteten, sodass sich aus der Soteriologie immer auch eine Ethik ergeben muss. „Die befreiende Mission der Kirche“ – so das zentrale Kapitel IV der Instruktion – nimmt ihren Ausgang an der befreienden Botschaft Jesu und seiner Reich-Gottes-Praxis. Die Kirche weist positiv auf „die Grundlagen der Gerechtigkeit in der zeitlichen Ordnung“ und bleibt ihrer prophetisch-kritischen „Sendung treu, wenn sie die Irrwege, Sklavereien und Unterdrückungen anprangert, denen die Menschen zum Opfer fallen“. Die Kirche verurteilt aber ihrer Sendung gemäß auch die Methoden, die Gewalt mit Gewalt, Terror mit Terror und Entrechtung mit Entrechtung vergelten wollen.
Schranken zwischen den Klassen überwinden
Bei allen seelischen und materiellen Übeln, von denen große Teile der Menschheit in ungerechten Systemen geplagt werden, ergreift die Kirche die vorrangige „Option für die Armen“, nicht um Konflikte anzuheizen, sondern um Schranken zwischen Klassen zu überwinden und Solidarität, die Menschenwürde und die Subsidiarität zu den allgemein geltenden Prinzipien einer Gesellschaftsordnung zu machen. Im Verhältnis von persönlicher Sünde und Strukturen ist zu sagen, dass es „eine Struktur der Sünde“ – so Johannes Paul II. in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis vom 30. Dezember 1987 – gibt als Ergebnis von kollektiven Fehlentwicklungen und Ausdruck falscher Mentalitäten. Diese können Sünde genannt werden, weil sie aus der Sünde kommen und zur Sünde hinführen. Aber das schließt die individuelle Verantwortung des Einzelnen nicht aus. Keiner kann sich entschuldigen, dass das System ihn gezwungen habe, andere Menschen auszubeuten und zugrunde zu richten, damit er seinen Lebensunterhalt erwerben könne.
Nirgends bestimmen sogenannte geschichtlich notwendige Prozesse gleichsam fatalistisch den Menschen und entheben ihn des freien Gebrauchs seiner Verantwortung vor Gott. Nicht das „Schicksal“ oder „geschichtliche Gesetzmäßigkeiten“, sondern die „Providentia Dei“ bestimmt den Lauf der Geschichte in Bezug auf die menschliche Freiheit und ihre Vollendung in der Liebe – sowohl im irdischen Leben wie auch im Hinblick auf die übernatürliche Berufung des Menschen.
Es bleibt der Vorrang der Person vor der Struktur. Deshalb hat die befreiende Praxis der Christen, die sich aus der Befreiung von der Sünde und der Mitteilung der Gnade ergibt, sowohl die Veränderung und stetige Verbesserung der materiellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen zur Folge, wie sie auch die personale Begegnung von Mensch zu Mensch in der Liebe Christi als das Herzstück des Christseins begreift: „Eine noch nie dagewesene Herausforderung ist heute den Christen gestellt, die sich um die Verwirklichung der Zivilisation der Liebe bemühen, die das ganze ethisch-kulturelle Erbe des Evangeliums in sich zusammenfasst. Diese Aufgabe verlangt eine neue Besinnung auf das, was das Verhältnis zwischen dem Hauptgebot der Liebe und der sozialen Ordnung in ihrer ganzen Vielschichtigkeit bildet“. Es geht um die „großen Anstrengungen in der Erziehung zur Zivilisation der Arbeit, zur Solidarität“ und um „den Zugang aller zur Kultur“. Eine solche Anstrengung ist für die Kirche notwendig und Hilfe für die Armen und Notleidenden in aller Welt.
Die Instruktion der Glaubenskongregation hat den positiven Gehalt aus den neuen theologischen Ansätzen herausgearbeitet und gezeigt, dass und wie eine „authentische Theologie der Befreiung“ (Johannes Paul II.) und die katholische Soziallehre für den Dienst der Kirche an der Welt unentbehrlich sind. Es muss das Anliegen aller sein, und die christliche Lehre von der Freiheit und Würde des Menschen konkret wirksam zu machen.