Hallo,
so gravierend dir deine Zweifel momentan erscheinen mögen - deine Schwarzmalerei ist in diesem Stadium unnötig. Ich bin ebenso alt wie du, habe schon Bachelor (samt HiWi-Job und Praktika), Auslands-Master und Auslands-Promotion im Forschungsbereich hinter mir und arbeite nun in Deutschland an der Schwelle zwischen Forschung und Industrie. Zum Ende des Studiums hin überkamen mich dieselben Zweifel wie dich: „Will ich das überhaupt mein Leben lang machen? Wie soll ich das nur durchhalten? Geregelte Arbeitszeiten, öde Arbeit, wie soll das gehen?“
Und nun die gute Nachricht: Alles halb so schlimm! Als ich mit der Promotion angefangen habe, ist mir klar geworden, dass das Arbeitsleben nicht viel mit Studium (und auch mit Praktika, HiWi-Job, Masterarbeit) zu tun hat. Plötzlich hatte ich viel mehr Freiheit, musste mich in neue Sachverhalte einarbeiten, übernahm Verantwortung für mein eigenes Projekt, fand mich in einer neuen Umgebung wieder. Und arbeitete übrigens auch am Wochenende und nach 17 Uhr - freiwillig. Meine Promotionsstelle hat mir gezeigt, dass arbeiten nicht das Gleiche sein muss wie Befehle befolgen, und dass die Einarbeitung in neue Gebiete und die kreative Anwendung des Wissens Spaß machen. Durch das Leben im Ausland und die insgesamt sehr internationale Umgebung habe ich außerdem interessante Menschen aus aller Welt kennengelernt und viel über andere Kulturen erfahren - Erfahrungen, die ich auf keinen Fall missen möchte.
Nach der Promotion wusste ich wieder nicht so richtig, wo ich hin soll. Industrie? Zu viele Sachzwänge. Forschung? Alles ein bisschen langsam und träge (klingt so ähnlich, wie du auch deine Probleme mit deiner derzeitigen Arbeitsstelle beschreibst). Glücklicherweise bin ich schnell nach der Promotion an eine Stelle an der Schnittstelle Forschung/Industrie (sprich: Ausgründung aus einem Forschungsprojekt) gelangt. Wir sind ein kleines Team mit großen Visionen, jeder hat ein Gebiet, für das er komplett selbst verantwortlich ist, die Hierarchien sind flach, der Chef begeisterungsfähig, und ES MACHT SPASS, sehr viel sogar! Ich musste und muss mich wieder in ein völlig neues Gebiet einarbeiten, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich dort landen würde. Nebenbei wende ich aber auch meine zuvor erworbenen Kenntnisse mit an. Ich habe Verantwortung und muss mich vielen Herausforderungen stellen, aber gerade das ist das Spannende, was man im Studium und Praktikum überhaupt nicht hat. Und ich musste mit der Zeit feststellen, dass die Arbeitsmotivation extrem vom Vorgesetzten abhängt. Inkompetente Vorgesetzte ohne Führungsqualitäten verderben die Atmosphäre, übersehen Talente und Hürden, und das alles führt zu Frustration bei den Mitarbeitern sowie schlechten Arbeitsergebnissen. Leider habe ich genug solcher Beispiele gesehen, und zum Glück war ich darin nicht direkt involviert.
Die Arbeitsmotivation hängt aber auch von deiner Einstellung ab: Bist du neugierig? Willst du neue Dinge lernen? Willst du dich Herausforderungen stellen? Oder würdest du am liebsten nach Schema F einen 08/15-Job ausführen? Im letzten Fall wird dich auch der beste Chef der Welt nicht zu Höchstleistungen animieren können. Im ersten Fall hingegen wirst du auch im langweiligsten Job Aspekte finden, in die du dich vertiefen kannst, um besser zu werden und Neues zu erlernen, was dir wiederum ermöglichen wird, auf der Karriereleiter aufzusteigen, mehr Verantwortung zu übernehmen und mehr zu bewegen.
Im Übrigen musst du nicht unbedingt etwas Neues studieren, um in einem völlig anderen Arbeitsgebiet zu landen. Zwei Beispiele aus meinem direkten Umfeld: ein Agrarwissenschaftler, der als Programmierer arbeitet, und ein Ingenieur, der als Vertriebsmanager in aller Welt herumreist und neue Filialen eines Konzerns von Grund auf in anderen Ländern aufbaut. Im zweiten Fall kommen dem Manager seine Ingenieurkenntnisse und -erfahrungen (im ersten Job nach dem Studium) zugute, denn die Firma stellt technische Bauteile her, bei deren Verwendung sich der Vertriebsmanager auskennen muss. Andererseits hat diese Arbeit sehr viel mit Wirtschaftswissenschaften zu tun (diese Person hat später berufsbegleitend zusätzlich einen MBA-Abschluss gemacht), und sehr viel mit Menschenkenntnis und mit Kenntnis verschiedener Kulturen. Zudem sind Sprachkenntnisse vonnöten, logisches Denken etc. - also eine ganze Palette von Fähigkeiten, wodurch der Job viel spannender ist, als das Wort „Vertriebsmanager“ vermuten lässt. Du siehst also, du kannst unabhängig von dem, was du studiert hast, in jede beliebige Richtung gehen, solange du neugierig und begeisterungsfähig bleibst. Arbeitsleben ist nicht dasselbe wie Studium, und gute Führungsqualitäten hat nicht jeder Vorgesetzte - manchmal hilft schon ein Firmenwechsel, manchmal aber eben auch die Wagnis einer beruflichen Neuorientierung.
Viel Spaß auf deinem Weg in die Arbeitswelt!
Anja