Hallo Antje
zu Deiner Anfrage ließe sich sicher sehr sehr viel schreiben. Viel Systemkritik, viel unreflektierte Kollegenschelte, wenige wirklich kluge Ratschläge, da sich aus den paar Zeilen, die Du schreibst, ja keine wirkliche Beurteilung Deiner Situation bewerkstelligen lässt. Ich versuche jedoch, dieser Versuchung zu widerstehen, da ich weiß, dass das über das Internet und solche anonymen Wege ohnehin so gut wie keinen nachhaltig positiven Effekt hat.
Zunächst stelle ich mir natürlich dennoch die Frage, weshalb Du als Diplompädagogin - wegen der beschriebenen Defizite im Rechtsbereich offenbar nicht mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik - in diesem Bereich tätig werden konntest und innerhalb eines Jahres von Deinen KollegInnen und dem Arbeitgeber nicht ausreichend dabei unterstützt wurdest, Dir die entsprechenden Kenntnisse anzueignen. Hier gilt es, nicht locker zu lassen. Der Arbeitgeber hat auch eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mitarbeitern und Du könntest mit dem Betriebsrat gemeinsam evtl. entsprechende Fortbildungen verlangen - auch um den Gesundheitsschutz (Burn-Out-Prophylaxe z.B.) für die MitarbeiterInnen zu verbessern…
Auch bei dem Träger Deiner Stelle gibt es sicher einen Etat für Fortbildungen. Diesen gilt es erstmal auszuschöpfen. Sicher sinnvoll ist hier Supervision, um Deinen Kollegen auch klarmachen zu können, wie Du bestimmte Fälle und Risiken erlebst und einschätzt.
Der Unterschied zwischen dem „Smalltalk-Hilferuf im Büro“ und einer Supervisionssitzung kann sehr groß sein. Auch dann, wenn die behandelten Inhalte identisch sind. Leider wollen das viele BerufskollegInnen so nicht wahrhaben…
Du schreibst, dass es Dir schwer fällt, zu beschreiben, was Dein Problem ist. Ich deute Deine Aussagen so, dass es letztlich um eine gefühlte Unsicherheit im Handeln und in der Risikoabwägung geht. Also erstmal vollkommen normal und kein „Problem“, sondern ein Indikator dafür, dass Dir das Alles nicht ganz egal ist. Dein Job und die Aufgaben beschäftigen Dich. Du bist „mit Herzblut dabei“. Du willst Deine Arbeit richtig machen. Du willst Deine Arbeit gut machen. Du willst den Klientinnen/Kundinnen/Schutzbefohlenen helfen. Du hast Angst, dass Dir das nicht gelingt. Wenn es aus der Ferne auch schwierig zu beurteilen ist, so finde ich das hier weniger ein Problem, als vielmehr eine Riesenressource sichtbar wird.
Tragisch allerdings, dass Du unter einigen Auswirkungen Deines eigenen Engagements und der Hilfsbereitschaft leidest. Deine KollegInnen haben bzgl. der Unsicherheit ggf. Recht. Die gibt sich mit der Routine und den Erfahrungen wirklich teilweise. Manche Dinge lassen sich nicht planen und stets kalkulieren. Wir werden in unseren Betätigungsfeldern immer wieder mit Situationen konfrontiert werden, die uns spontane Reakionen abverlangen. Auf diese können wir uns nicht im Detail vorbereiten. Je größer unsere Methodenvielfalt hier ist, desto geringer unsere Unsicherheit für diesen Bereich. Hier geht es jedoch wirklich um Erfahrungen und Erlebnisse und weniger um fehlendes Fachwissen. Ich bemühe an dieser Stelle gerne die Metapher der beiden Frösche im Sahnetopf, aus dem sie nicht rauskommen, weil die hohen Wände so glatt sind. Beide strampeln und schwimmen und kämpfen. Als einer aufhört und aufgibt, geht er unter. Der andre strampelt weiter und weiter. Er weiß nicht warum und erkennt den Sinn zunächst nicht. Trotzdem hört er nicht auf. Irgendwie wird die Sahne dann durch das Gestrampel zu Butter, sie wird hart und er kann aus dem Topf springen. Dieses Bild bemühe ich oft, wenn ich selbst „in den Mühlen der wohlfahrtsverbandlichen Arbeit“ strampeln muss. Die Unsicherheit und Ängste werden im Laufe der Zeit weniger werden. Wenn es Dir selbst aktuell jedoch „schlecht geht“, hilft Dir das nicht viel weiter, ich weiß.
Wirklich helfen können Dir da nur die Menschen, die Dir näher sind. Deine KollegInnen, evtl. ein Vorgesetzter, SupervisorInnen.
Ich selbst habe in jüngeren Jahren - als es mir ähnlich ging - mal einen Therapeuten bemüht. Die Krankenkasse hat die Kosten übernommen, weil der so clever war, es über die Burn-Out-Schiene zu versuchen. So hatte ich einige Sitzungen „Einzelsupervision“, die mir echt viel gebracht haben. Das war super. Kann ich nur empfehlen.
Gerade dann, wenn Du über nachts schon nichtmehr gut schlafen kannst, sollte es auch bei Dir kein Thema sein, sowas bewilligt zu bekommen. Wie gesagt, mir hat das damals sehr gut getan. Ich hatte regelmäßig Zeit in der es um mich und mein Erleben, meine Probleme, meine Sorgen ging. Das halte ich für sehr wichtig, wenn man(n) sonst immer gezwungen ist, sich um das Erleben, die Probleme und die Sorgen von Klienten zu kümmern…
Bzgl. der konkreten Frage des „Rufens eines Krankenwagens“ gibt es eine methodisch richtige Vorgehensweise. Ich kann Dir für Deinen Arbeitsplatz keinen Standard schreiben, aber letztlich geht es hier um ein Risikomanagement. Krisenhafte Situationen bergen aus fachlicher Sicht immer drei Arten von Risiken:
Risiken für die Mitarbeiter (Haftung, Verantwortung, Verletzungsgefahr etc.)
Risiken für die Klientel (Verletzungsgefahr, Konflikt mit dem Gesetz, Suizid, Verschlechterung des Zustandes und und und… alles nur Beispielhaft)
Risiken für die Einrichtung (Ansehen in der Öffentlichkeit, finanzielle Risiken, Ansehen in der Fachöffentlichkeit, und und und)
Hier gilt es mit Deinen KollegInnen gemeinsame Mindeststandards zu erarbeiten. Gemeinsame, klare Regeln, die von allen MitarbeiterInnen verpflichtend beachtet werden, helfen hier weiter. „Wenn Klientin X das Verhalten Y an den Tag legt, ist ein Krankenwagen zu rufen.“ Solche Regeln helfen auch, das Handeln zu professionalisieren. Letzlich geben Sie aber auch Dir als Mitarbeiterin die Sicherheit, zu wissen, was wann zu tun ist. Mir persönlich helfen derartige Standards und Regeln sehr. Ich muss jedoch auch stets - vor allem mit der Ü-50-Fraktion kämpfen bzw. wichtige Überzeugungsarbeit leisten, wenn ich derartige Vereinfachungen fordere.
Ich halte jedoch ein vernünftiges Risikomanagement für unverzichtbar. Wie gesagt zum Schutz von Klientel, Belegschaft und Träger. Deshalb sollte hierfür auch Zeit zu finden sein. Ich würde sogar soweit gehen, es in die „goldenen Regeln“ aufzunehmen, die Du suchst.
Womit ich zum Ende kommen möchte. Die gesuchten goldenen Regeln kann ich dir nicht bieten. Zusammenfassend wichtig ist mir jedoch die Sichtweise, dass es nicht nur um die Klientel, sondern auch um Dich, Deine KollegInnen, Deine Vorgesetzten, Deinen Träger gehen muss. Immer. Alle diese Beteiligten am Hilfeprozess sind damit auch sich gegenseitig verantwortlich. Es ist schade, dass Du die „älteren“ mit Deinen 27 Jahren erst darauf aufmerksam machen musst. Aber es ist auch die Chance, dass sich etwas verändert - und es zeigt, dass Du etwas ziemlich richtig machst.
Du kannst Dich bei konkreten Fragen gerne nochmal an mich wenden. Viel konnten Dir meine Zeilen sicher nicht helfen, aber vielleicht regen sie Dich ja an, die eine oder andere Veränderung anzustoßen, die Eure Angebote nachhaltig verbessern UND Deine persönliche Situation entspannen.
Viele Grüße
Andreas