Salve!
Im Ingenieurwesen ist umfassende Betreuung eine bewährte Tradition:
Der Betreuer soll einerseits den Studenten begleiten und andererseits die Qualität des akademischen Erzeugnisses garantieren. Studenten sind keine erfahrenen Akademiker, sondern stehen mit der Abschlußprüfung erst am Anfang des Weges. Eine schlecht bewertete Diplomarbeit heißt daher in 9 von 10 Fällen, daß der Student keine oder höchstens mangelhafte Unterstützung erfuhr - d.h. Gepfusche!
Ich lese z.B. eine Diplomarbeit mehrmals, ehe ich die Abgabe zulasse.
Der Student wurde mir anvertraut und als Betreuer habe ich die Verantwortung - und den Ehrgeiz -, daß am Ende zufriedenstellende, perfekte Resultate entstehen. Der Anspruch ist, daß jeder einzelne, der bei mir diplomiert, das ihm mögliche Optimum aus der Arbeit herausholt. Daher erfolgt bis zur letzten Minute Kritik; es werden Verbesserungen diskutiert und es wird auf Feinschliff geachtet. Gut gelaufen ist es dann, wenn die Diplomarbeit den Stempel am offiziellen Abgabetag 15.55 Uhr erhält, keine Sekunde eher. Das Prüfungsamt schließt 16.00 Uhr.
Es kommt bei mir eigentlich immer vor, daß ich am Abgabetag noch um 15 Uhr spontan auf Feintuning einiger Kleinigkeiten dränge, obwohl das Prüfungsamt um 16 Uhr schließt. Oder der Student ist von der Kategorie „fauler Hund“, der nicht aus dem Tee, und wo alles immer auf die letzte Sekunde gemacht wird.
Viertel 4 wird dann gedruckt, 10 vor halb 4 renne ich mit dem Studenten schräg gegenüber in den Kopierladen, wo die geforderten drei Exemplare gebunden werden. Nach der halbe Stunde, die der Buchbinder braucht, geht es kurz nach dreiviertel 4 schräg gegenüber ins Prüfungsamt, so daß es ungefähr 5 vor um 4 den ersehnten Stempel gibt. Wenn der Student aus dem Zimmer der Prüfungstante kommt, gibt man sich erleichtert und freudig die Hand und weiß, daß unter den gegebenen Randbedingungen und in der begrenzten Zeit mit harter, guter Arbeit das Maximum herausgeholt wurde.
Die enge Zusammenarbeit mit dem Studenten ermöglicht es zudem, die notwendigen objektiven Eindrücke zu bekommen, die zur Einschätzung der Leistung und zur Erstellung eines profunden Gutachtens gebraucht werden. Ich z.B. versuche, pro Woche ein Treffen von 30 Minuten bis maximal 2 Stunden zu machen. Man sieht schnell in den ersten Treffen, ob der Student organisiert ist, oder ein Chaot, ob er zu Fache kommt, wie er Kritik aufnimmt, wie seine Herangehensweise aussieht, wieviel Eigeninitiative er zeigt. Manchmal lasse ich den Studenten vor der Doktorandenrunde referieren, wenn ein erster guter Zwischenstand vorliegt, so daß er sich im offenen Kolloquium behaupten muß.
Daß man keinen falschen Eindruck bekommt: Es herrscht der Anspruch der Universität – universitas magistrorum et scholarium, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Ein Student, der bei mir diplomiert, muß weitestgehend eigenständig, zielstrebig, sorgfältig und insbesondere fachlich solide arbeiten. Ich biete im Gegenzug meinen Erfahrungsschatz.
Die Praxis lehrt, daß Studenten sehr, sehr viel lernen, wenn sie intensiv betreut werden. Die angesprochene Kritikwütigkeit und der exzessive Feinschliff von Ecken und Kanten prägen den Studenten für die Zukunft, zeigen ihm Verbesserungsstrategien und geben ihm ein Vorbild, wie ein qualitativ hochwertiges akademisches Erzeugnis aussehen sollte - im Prinzipp. Man darf es bloß nicht übertreiben, sonst geht die Selbständigkeit des Studenten verloren. Konstruktive Kommunikation ist wichtig, die schlichte Korrektur mit dem Rotstift hilft selten. Ich versuche, den Studenten ins Fachgespräch zu verwickeln und ihm Wege aufzuzeigen. Was der Student davon letztlich aufgreift, ist seine Sache.
Im Ingenieurwesen ist enge Betreuung gleichzeitig die Qualitätskontrolle. Qualitätskontrolle, die es z.B. in den Geisteswissenschaften eher nicht gibt. Der hier im Forum bekannte Karl Theordor Maria von und zum Guttenberg ist das perfekte Beispiel für das Versagen der Geisteswissenschaften. Man soll nie nie sagen, doch im Ingenieurwesen wäre Guttenberg nie durchgekommen, sondern höchstwahrscheinlich aufgeflogen. Die Hürde zum Betrug wächst exponentiell mit dem Grade der Mathematisierung. Es ist bezeichnend, daß die Betrügereien der Politiker bisher ausschließlich in Fächern geschahen, die sich durch Salbadern und stumpfsinniges Auswendiglernen definieren. (Im Übrigen ironisch und höchstamüsant auch, daß es ausgerechnet die rechtskonservativ-bürgerlichen Parteien schwer trifft – dort, wo sich die selbsterklärten Leistungsträger und Hüter unserer Werte jeden zweiten Tag rhetorisch an Arbeitslosen, Gesellschaftskritikern etc. vergehen und von Ehrlichkeit, Fleiß, Gerechtigkeit, Leistungsauslese usf. schwadronieren. Ganz großes Kino.)
Nicht vergessen werden darf in der Diskussion: Eine Diplomarbeit ist keine Forschungsleistung, sondern dient dem Nachweis, daß der Student unter vorgegebenen Randbedingungen ein Thema des Studienfaches mit ihm bekannten Methoden, Werkzeugen usf. untersuchen kann. Und eine Bachelorarbeit steht deutlich unter einer Diplomarbeit.
Die Konsequenz dieses Betreuungssystems ist leider Gottes Noteninflation, eine schwerwiegende Mangelerscheinung des deutschen Hochschulwesesns. Man kann sich als Betreuer kaum distanzieren, und wenn man es tut, führt dies unweigerlich zur ungerechten Bestrafung des einzelnen. Inoffiziell gilt: 1.0 = extrem selten, denn alles muß perfekt sein, einschließlich Verteidigung und Laune des Profs – oder der Prof ist ne Lusche; 1,3 und 1,7 = Standardnoten für gute und sehr gute Diplomarbeiten; 2.0 = okay, gute Arbeit, aber irgendwas muß gewesen sein; 2,3 und schlechter = Pfusch etc.
In Insiderkreisen kursiert teilweise der Ansatz 1,0 = 1,0; 1,3 = 2,0; 1,7 = 3,0; 2,0 = 4,0; 2,3 = 5,0, eigentlich durchgefallen, Mist etc.
Das heißt, muß jemand z.B. ne 3,0 fressen, ist das nicht nur ein heftiger Tiefschlag für den Studenten sondern auch für den Betreuer. Da fragt man sich: Hat der Betreuer gesoffen und die ganze Zeit zugelötet in der Ecke gefläzt?!?!
Wie will man begründen, daß für ähnliche Leistungen viel bessere Noten gegeben wurden, weil der Prof an dem Tag bessere Laune hatte, weil der Professor den anderen Studenten wiedererkannte, leiden konnte, was auch immer?
Ich hatte deswegen mit dem Professor und seinen teilweise absurden Sichtweisen schon einmal handfesten Streit. Eine Riesenauseinandersetzung hinter verschlossenen Türen, die aber vermutlich die ganze Fakultät hören konnte. Mein Gutachten lautete 1,3, aber dem Professor paßte das Gesicht und das Arbeitsverhalten des Studenten nicht. Die Note, die der Professor festlegte (ich habe keine Entscheidungsgewalt, doch in der Regel folgt der Professor dem Gutachten des Betreuers, insbesondere wenn der Professor die Arbeit vor der Verteidigung nicht gelesen hat), lautete 2,0, die Note der Verteidigung noch massiv schlechter, obschon es eine Spitzenverteidigung war. Der Student beherrschte sein Fach und sein Thema, ließ sich nicht unterbuttern und konnte auf Grund seiner Klasse dem Professor Kontra geben. Das Resultat war die blanke Katastrophe. Der einzige wirklich herausragende Student seit langem bekommt die in Jahren schlechteste Note der Professur. Auch ein Schlag in mein Gesicht.
Selbstverständlich kam der Student hinterher zu mir ins Büro und dann ging es mit nächsten Auseinandersetzung weiter, zwischen mir und dem Studenten, der mir ordentlich Zunder gab.
Es geht bei der Diplomarbeit/Masterarbeit nicht um eine einfache Prüfung oder um eine Abschlußarbeit in den (brotlosen ) Geisteswissenschaften. Die Unternehmen schauen sehr genau auf die Diplomarbeit/Diplomarbeitsnote bzw. die Diplomendnote. In diese Sachen wird sehr viel hineingedeutet, insbesondere von Personalern in Großunternehmen.
Die Universitäten geben dieses Problem hinter verschlossenen Türen offen zu. In den Beratungsgesprächen zur Notenfestlegung, in Fakultätsratssitzungen und in Sitzungen des Prüfungsausschusses heißt es: „Man kann niemanden nach 10 Semestern durchfallen lassen.“, „Andere Unis bewerten weniger streng und die Abschlußnoten unserer Absolventen müssen konkurrenzfähig sein.“, „Jeder kann mal nen schlechten Tag haben und die Verteidigung versieben.“.
Ich habe diesbezüglich die Professorenschaft schon mehrfach provoziert mit der Frage, warum überhaupt Noten vergeben werden für die Abschlußarbeit. Typisch deutsch: Alles muß normiert werden.
Man sollte auf die Benotung generell verzichten; die Arbeit wird „angenommen“ oder „zurückgewiesen“. Schluß, Aus, Ende der Diskussion! Und in das Diplomzeugnis kommt das ausführliche Gutachten (2 Seiten).
Viele Grüße
Reiner