Hallo!
Eine Historikerin behauptet bei YouTube:
"Also, Darstellungen von Geschlechtslosigkeit, Zweigeschlechtlichkeit oder Mehrgeschlechtlichkeit, von allem, was wir heute als nicht-binär identifizieren würden, finden wir eigentlich in allen antiken Kulturen bis hin ins alte Mesopotamien und auch in einigen Weltreligionen. Im Judentum gibt es ein ganz anderes Verständnis von Geschlecht, das [wir] in diesem binären System kennen.
Dass wir heute in diesem festgefahrenen, binären Geschlechtersystem leben, das haben wir dem Kolonialismus zu verdanken. Denn als die europäischen Kolonialisten in die Welt gegangen sind, haben sie all diese jahrtausendealten Kulturen ausgelöscht und damit auch das damit einhergehende Geschlechterbild. Plötzlich wurde Mehrgeschlechtlichkeit oder auch gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert und als Perversion abgestempelt.
Das entspricht aber überhaupt nicht dem, wie Geschichte gewachsen ist, und das haben wir heute auch in der Geschichtsforschung verstanden und gucken uns deshalb ganz viele historischen Funde noch einmal neu an, denn wir wissen heute, dass in der Zeit, in der die Archäologie und die Geschichtsforschung gerade groß und schick wurde, vor allem so im 18. und 19. Jahrhundert, wurde das eben nur von Männern betrieben und haben dann eben das Geschlechterbild und die Rollenverteilung, die Binarität, die sie kannten, auf ihre Funde projiziert. Jetzt gerade ist die Geschichtsforschung tatsächlich in dem Prozess, das alles wieder zu entspinnen und zu dekonstruieren, um mal zu gucken: Okay, aber was haben wir denn da wirklich gefunden, und was haben die Männer, die das damals gefunden haben, vielleicht einfach nur da reinprojiziert?"
Quelle: https://youtu.be/nuquy6fLt80?si=_N9PtkeFNybbNz_M&t=1759
Ich bin leider kein Historiker und wüsste nur zu gern, wie valide das ist.
(Einige der) Hintergründe meiner Frage:
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Ich interessiere mich für die Wahrheit. Als Experte auf ganz anderem Gebiet weiß ich, dass objektiv falsche Behauptungen zu Geschlechterfragen kursieren und zwar teils plump, teils sehr geschickt platziert. Mit anderen Worten: Ich kann solchen Ausführungen nicht blind vertrauen (früher hätte ich dergleichen vielleicht einfach als neusten Forschungsstand akzeptiert). Aber ernstnehmen muss und möchte ich die Historikerin ja schon, und ich kann mir problemlos vorstellen, dass zumindest einige oder auch viele Kulturen zum Beispiel ein anderes Konzept als das der Binarität der Geschlechter hatten.
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Wo Leute nicht vom Fach sind, etwa bei der taz, Zeit Online und Spiegel Online, lese ich neuerdings öfter, dass Homophobie - auch in heutigen „islamischen“ Ländern - ein Produkt der europäischen Kolonialisten sei. Das könnte eine richtige oder falsche Interpretation der neuesten historischen Forschung sein, deren Plausibilität damit umso interessanter wird.
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Diverse Muslime behaupten, die islamische Theologie habe die Sündhaftigkeit und Strafwürdigkeit der praktizierten Homosexualität schon vor 1.000 Jahren oder schon immer einhellig vertreten. Selbst wenn das „einhellig“ nicht stimmen sollte, und wenn nur ein Teil der muslimischen Theologen vor 1.000 Jahren so gedacht hätte, wäre der Behauptung, etwa die Ablehnung der praktizierten Homosexualität sei allein dem Kolonialismus zu verdanken, doch der Boden entzogen; dann aber würde ich mich fragen, wieviel Liebe zur Wahrheit überhaupt in dem ganzen Konzept steckt.
Da wir uns in einem religionswissenschaftlichen Brett befinden: Wie ist die Aussage zum Judentum zu bewerten? Wie stand die islamische Theologie vor 1.000 Jahren zu praktizierter Homosexualität? Wenn jemand mehr zu meinen Fragen weiß als „nur“ das, freue ich mich natürlich umso mehr.
Vielen Dank im Voraus!