Hallo Bettina,
das Wochenende war sehr turbulent, deshalb komme ich erst jetzt dazu, dir zu antworten.
Deine Meinung zum „Störenfried“ in der facebook-Gruppe finde ich sehr schön. In der Tat kann man im „wahren“ Leben niemanden einfach weglöschen. Aber man kann lernen, anders mit ihm umzugehen. Das bedeutet immer, sich selbst zu ändern.
Ich habe damals als erstes das Buch von Suzuki gelesen und freue mich, dass es dir auch gefällt. Es ist sehr poetisch geschrieben – aber eben das ist Zen in der Praxis überhaupt nicht.
Menschen tendieren dazu, in Zen (oder jede andere Schule des Buddhismus) etwas hineinzuinterpretieren. Da wird dann sein Ausspruch „Form ist Leere und Leere ist Form“ philosophisch hinterfragt, darüber nachgedacht, alle Seiten abgewägt, etwas hinzugedichtet, andere Sichtweisen interpretiert – dabei sagt Suzuki mit dem Satz einzig und allein etwas zur Zen-PRAXIS, mehr nicht.
Vielleicht verstehst du jetzt, was ich damit meinte, dass man zwar Metta usw. üben könnte, aber es nichts nützt, wenn der „Rahmen“ dazu fehlt. Wenn man einfach nur ohne Rahmen übt und die buddhistische (Zen-) Lehre außer Acht lässt, verliert man sich: in Interpretationen, was nun der Satz zu „Form und Leere“ meinen könnte, etc.
Suzuki gehört einer Zen-Richtung namens „Soto“ an, in der auch ich hauptsächlich „groß geworden“ bin. Daneben gibt es noch eine Richtung namens „Rinzai“, die sogenannte Koan (paradoxe Fragen) nutzt, die man nicht mit dem rationalen Geist lösen kann. Warum erzähle ich dir das? Im Rinzai-Zen ist eben dieser Ausspruch „Form ist Leere und Leere ist Form“ Inhalt eines Koans. Der Schüler bekommt ein solches Koan als Aufgabe und wird damit alleine gelassen. Er zermartert sich meist das Hirn, versucht wie eben beschrieben, alle Sichtweisen anzuschauen, das Koan zu zerlegen, zu hinterfragen, philosophisch abzuwägen – dabei müsste er nur aufhören zu denken, loslassen und „in die Leere“ gehen. Dort ist die Antwort auf das Koan.
Das klingt sicherlich recht metaphysisch für dich, aber es bedeutet einfach, dass man Aufgaben, Fragen und Probleme (auch die mit Kollegen) auch durch intuitives Wissen lösen kann. Koan sollen dorthin führen. Du hast ja auch erwähnt, dass es bei dir „durchblitzt“ – genau das ist damit gemeint: Erkenntnis und nicht Überlegen ; - )
Nun bin ich schon wieder abgedriftet. Ich wollte noch loswerden, dass ich es schön finde, dass dir Zen gefällt, ich wollte dich aber nicht anwerben ; - )
Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich weiter schreiben soll, denn irgendwie haben wir in unseren Mails den Punkt erreicht, in dem wir über das Allgemeine hinausgegangen sind. Alles Weitere kann ich eigentlich gar nicht mehr in einer solch allgemeinen Fassung halten…ich hoffe, du verzeihst. Denn ich möchte dir ja gerne unter die Arme greifen, wenn du das möchtest. Aber das bedeutet irgendwie, dass wir schon inmitten der Zen-Lehre sind.
Ich schreibe einfach mal weiter…
Wenn du Gedanken stoppst, ist das nur ein Anfang. Gedanken erzeugen immer Gefühle. Schaue achtsam hin und du wirst es bemerken. Da ist immer zuerst ein Gedanke, aus dem dann ein Gefühl entsteht. Wenn du also deine Gedanken stoppst, können dementsprechend keine Gefühle mehr erzeugt werden. Dass da bei dir trotzdem noch Gefühle nach dem Stop waren, hängt mit den Gedanken VOR dem STOP zusammen, sie „hallten“ sozusagen nach.
Gefühle loszulassen ist nicht so einfach. Aber man kann die Gedanken umändern und du wirst merken, dass sich damit auch Gefühle steuern lassen. In meinem Buch nenne ich das „ABC-Konzept“. Zen will jedoch die „Königsdisziplin“ als Endprodukt erreichen – völlige Freiheit von Gedanken und Gefühlen. Sie kommen und gehen und alles ist gut so, man haftet nicht daran an.
Für dich mag das alles fremd klingen, aber mit Übung wirst du das alles innerlich durchdringen und intuitiv verstehen. Es geht also IMMER darum, alles in sich selbst zu erfahren. Das kann nur durch Üben geschehen, nicht durch rationales Überlegen oder Abwägen.
Im Grunde geht es darum, die inneren Wahrheiten zu ent-lernen, um die Welt wieder so zu sehen „wie sie ist“.
Was bedeutet „wie sie ist“? Ist sie denn nicht so, wie sie jetzt gerade ist?
Nein, alle spirituellen Wege weisen darauf hin. Es geht darum, dass das menschliche Ego die Welt verblendet wahrnimmt. Änderst du deine Wahrnehmung (ent-lernst du also deine jetzige „verblendete“ Wahrnehmung), siehst du die Welt anders – eben so wie sie wirklich ist.
Was bedeutet „Wahrnehmung“? Du nimmst die Welt außerhalb von dir mit deinen Sinnesorganen wahr. Zu dem Zeitpunkt ist sie noch „wie sie ist“. Erst dann kategorisierst du das Wahrgenommene innerlich ein. Machst aus Wetter etwas „gutes“ oder „schlechtes“ Wetter. Beurteilst das Verhalten deines Kollegen als „schlecht“ oder „gut“. Das bedeutet, dass du innerliche Kategorien und Konzepte bildest (natürlich unbewusst und in Sekundenbruchteilen), mit denen du die Welt außerhalb von dir innerlich einordnest.
Dieses Beurteilen ist also das größte Hindernis, das es zu ent-lernen gilt. Du siehst, dass es vor allem gar nicht um dich selbst geht, sondern um die außerhalb von dir liegenden Dinge. Wenn du nicht beurteilst, nimmst du die Welt so wahr, wie sie ist. Im Zen wird deshalb meist (neben der täglichen Übung) damit gestartet, dass man sich mit „Form und Leere“ auseinandersetzen muss.
„Form ist Leere und Leere ist Form“ bedeutet nichts anderes, als ich eben gesagt habe: DU beurteilst die Welt innerlich, niemand sonst. Du nimmst eigentlich nur eine leere Form vor dir wahr, wenn du beispielsweise ein Auto vor dir siehst. Erst deine vergangene Wahrnehmung macht daraus innerlich ein Auto. Probiere diese Sicht auf alle Dinge, Menschen und Situationen aus, die dir begegnen. Vermeide es, irgendwie zu beurteilen.
Mit dieser Übung wirst du dich lange aufhalten. Denn du wirst merken, dass dein Geist immer und ständig beurteilt. Es braucht Zeit, das zu ent-lernen. Je achtsamer du wirst, desto öfter wird dir das auffallen und du kannst das Urteilen loslassen (du kannst dir beispielsweise auch dabei Stop! sagen).
Apropos Übung: Super, dass du angefangen hast. Ich weiß, wie schwierig das richtige Sitzen ist. Rückenschmerzen sind leider gang und gäbe – eben weil wir Westler es nicht gewohnt sind, so zu sitzen. Sie werden vergehen.
Ich lese grad noch mal deine Mail und komme zu deinen Überlegungen: Tja, was stoppt da wen? Das „Ich“, wie du es nennst ist das menschliche Ego. Du hast schon richtig erkannt: Gedanken und Gefühle sind vom Ego produziert. Wenn du deine Gedanken stoppst, hast du damit auch dein Ego gestoppt. Und du lebst trotzdem. Denn du bist nicht dein Ego. Wer stoppt das Ego? Es ist die Leere, Gott, Allah, wie auch immer. Denn das bist du eigentlich: immerwährende, dauerhafte Leere, Sein.
Du hast sogar schon Erlebnisse (bei der Klangmeditation) gehabt, in denen du deinen Körper verlassen hast. Super! Denn das bedeutet, dass du nicht dein Körper bist. Du ziehst also langsam deine Identifikation von deinem Körper (Klangschalenmeditation), deinen Gedanken (STOP) und Gefühlen (das kommt noch…vielleicht mit der ABC-Übung?) ab. Und was übrig bleiben wird, ist LEERE. Das ist dein Fundament, auf das du bauen kannst, alles andere ist vom Ego produziert und nicht dauerhaft.
Zu deiner Frage: Bedeutet Zen (oder dass es das „Ich“ nicht gibt), dass man alles mit sich machen lassen muss? Es gibt da keine Patentlösung. Schüler wollen immer das Ego loslassen und alles voller Gleichmut hinnehmen. Aber manchmal (vor allem in unserem westlichen Zusammensein) ist es eben auch mal notwendig, jemandem die Meinung zu sagen oder für sich selbst einzustehen.
Wenn du alles „völlig gleichmütig“ hinnimmst, kann das auch eine Art von Anhaftung bedeuten. Du musst einen Mittelweg finden. Wenn du gemerkt hast, dass du deine Wut gar nicht loslassen willst, ist das fabelhaft. Denn du hast offensichtlich schon Zugang zu deiner Intuition. Und der solltest du immer folgen. Wenn du also merkst, dass es in dem Moment angebracht ist, das Gefühl auszuleben, lebe es aus. Du wirst im Gegenzug auch merken, wenn es nicht angebracht ist. Normalerweise brauchen Schüler lange Zeit dazu, sich wieder mit dieser Intuition zu verbinden.
Du bist die Wahrheit, niemand sonst. Das bedeutet, dass du deine intuitive Wahrheit hast und ich meine. Meine wäre für dich vielleicht aber gar nicht gut. Insofern muss jeder selbst seiner inneren Stimme und seiner Wahrheit folgen. Es gibt auch hier wieder kein „richtig“ oder „falsch“.
So weit so gut. Aber du stehst erst am Anfang. Übe weiter. Du übst doch momentan das Atemzählen? Das ist für den Anfang gut. Sitze weiter und achte auf deine Haltung. Übe das Nicht-bewerten im Alltag.
Liebe Grüße.
Jan