Chinseische Höflichkeitsfloskeln

Hallo!
ich kann nicht den ganzen Roman erzählen, der mich zu dieser Frage führt, nur so viel als Kontext: 1969 sitzt ein Engländer in Bangkok und erhält Besuch von einem sehr liebenswürdigen Chinesen, der als Agent des Geheimdienstes einmal höflich nachfragen soll, ob der Fremde im Sinn hat, sich an irgendwelchen konterrevolutionären Aktivitäten zu beteiligen.

Die Autorin lässt ihn „revered sir“ sagen. Natürlich kann ich das leicht übersetzen, aber gibt es da eine Anredeformel,  die authentisch ist?

Gruß,
Eva

Hi

Ist mir ehrlich gesagt schleierhaft, wozu du das brauchst, wenn du ins Deutsche übersetzt?
Wahrscheinlich hätte er hierarchieabhängig 尊师 zunshi (verehrter Meister) oder eher vertrauensbildend 畏友 weiyou (verehrter Freund) benutzt. Beides sollte in diesem Kontext auf Deutsch mit „verehrter Herr“ oder meinetwegen (v.a. wenn es die weiyou Variante wäre) „geschätzter Herr“ übersetzt werden.
Ferner wäre die Ansprache noch abhängig davon ob das übliche ni (du), mit dem alles und jeder angesprochen wird, oder das schon sehr höfliche nin (Sie) verwendet wurde.

Nur wie willst du das vom Englischen aus feststellen?
Wenn der Chinese tatsächlich liebenswürdig ist, dann würde er ihn wohl übermäßig höflich ansprechen.

lg
Kate

Hallo!

natürlich kann ich „revered sir“, mit verehrungswürdiger Herr oder ehrwürdiger/geschätzter usw. übersetzen. Aber wenn ich mich an eine frühere Lektüre recht erinnere, gab es im China vor der Kulturrevolution auch Anreden wie z.B. „ehrwürdiger alter Wagen“, die allerdings, nehme ich an, um 1970 herum nicht mehr gebräuchlich wären.

Im Netz habe ich noch gefunden:
Der gewöhnliche Gebrauch des persönlichen Fürwortes ist nicht statthaft dagegen bedient man sich in der Regel zur Anrede eines Fremden der Worte Verehrungswürdiger Oheim, ehrenwertker Bruder, tugendhafter Gefährte oder vortrefflicher Herr statt des Fürwortes Sie oder Ihr und statt des Fürwortes Ich gebraucht man gewöhnlich die Worte der gemeinnützige Geselle, der Einfältige, der Letztgeborene oder der unwürdige Schüler Wie ist des vortrefflichen Herrn edler Geschlechts name lautet die erste Frage worauf in der Regel geantwortet wird mein armseliger Familienname ist So und So ….“

Ich habe mich jetzt für vortrefflicher Herr entschieden, aber das persönliche Fürwort, weil moderner, beibehalten. Der liebenswürdige Agent/Meuchelmörder soll sich ja nicht ausdrücken wie von vorgestern. Mich hätte ganz einfach interessiert, wie man sich das überhaupt vorzustellen hat, vor Mao, unter Mao, nach Mao, wie sich da die gesellschaftlichen Konventionen verändert haben. Es gibt im Netz auch interessante Seiten mit Tipps für Geschäftsleute, aber ich dachte, hier gibt es möglicherweise auch einen Kenner, der mir zu etwas Lokalkolorit verhilft.

Danke Dir und Gruß,
Eva

Hi,

im heutigen China redet man Männer mit „xian sheng“ an. Das entspricht unserem „Herr“. Also „li xian sheng“ für „Herr Li“. Nur ausgewiesene Respektspersonen wie z.B. Lehrer werden mit „wang lao shi“ (Lehrer Wang) angesprochen. Ein deutscher Geschäftsmann macht mit der Anrede „Mr. Li“ also im normalen Geschäftsleben nie etwas falsch. Nix mit Oheim, alter Wagen oder gar Bruder. Die meisten Chinesen werden sich eh mit ihrem englischen Namen, den sie sich meist selbst gegeben haben, vorstellen: „Hi, I am Steven Wang - welcome to Beijing!“. Chinesen untereinander sagen dann meist ihren vollen Namen „ni hao, wo shi zhou ming“ („Guten tag, ich bin Zhou Ming“).

In der Situation in dem Buch ist „revered Sir“ daher einfach nur sowas wie „geschätzer Herr“, ohne irgendwelche besondere Unterwürfigkeit. So wie man bei uns z.B. einen Brief mit „Sehr geehrter Herr Meier“ anfängt obwohl man die Person vielleicht gar nicht kennt (wie kann ich eine Person „ehren“ die ich gar nicht kenne?). Eine Floskel die nicht irgendeine Unterwürfigkeit ausdrückt. Sagt man so und gut.

Gruss
K

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Hi

Mir scheint, du bist da einem dicken Orientalismus aufgesessen. Darum meine Bitte:
Nur weil es um einen Chinesen geht, heißt das nicht, dass du ihn noch exotischer, noch abstruser machen musst, nur weil Chinesen doch soooo eigenartig sind.

Was du da vor dir hast, heißt verehrter Herr und nicht viel anderes. Warum musst du einen Begriff, der im Englischen doch richtig dargestellt ist, mit Rassismus aufladen? Wobei ich dich nicht des Rassismus anschuldige, aber dieses Über-Exotische stammt daraus.

Und nein, in China hat niemals irgendjemand irgendwen mit „ehrwürdiger alter Wagen“ angesprochen, das ist hahnebüchender Unsinn der aus mangelnder Übersetzungspraxis eben jener 1970er Jahre (aber eher der 40er) entstanden ist.
Im Antikchinesischen gibt es ein Zeichen namens chen, das heißt „Vasall, Lehnsmann“ und sieht ähnlich aus wie das Wort für Kutsche (also Vehikel, Wagen, Sänfte) und letzteres wurde wiederum auch für Diener benutzt.
Es gibt auch imperiale Titel, die das Zeichen „che“ (Wagen, Streitwagen) beinhalten, das wird aber niemals so übersetzt!

Wenn du dich damit näher auseinander setzen wollen würdest (was ich grade ernsthaft bezweifle), dann wende dich an das Antikchinesisch Lehrbuch von Gassmann und Behr (erster Band) oder an das preiswerte Dictionary of Imperial Titles vom altehrwürdigen Charles Hucker http://www.amazon.de/Dictionary-Official-Titles-Impe

Ich habe mich jetzt für vortrefflicher Herr entschieden, … mehr auf http://www.wer-weiss-was.de/app/article/write?Themen

Na toll! Hast du das mal gegooglet? Volle 476 Treffer in der deutschen Sprache! Meistens im Kontext von Königen. War das mit dem „nicht ausdrücken wie von gestern“ ironisch gemeint?
Ich habe dir doch schon gesagt, dass „verehrter Herr“ hier die angemessene Übersetzung ist. Natürlich musst du dich daran nicht halten, aber mit vollem Karacho in die entgegengesetzte Richtung rennen ist auch fragwürdig.
Ich als Autor würde mich jedenfalls riesig ärgern wenn ich ein sprachlich vernünftiges „revered Sir“ benutze und die Übersetzerin mir irgendeinen Orientalismus bedingten, sprach-unüblichen Begriff reinknallt.

Dass du eine ausführliche Darlegung der Entwicklung chinesischer Ansprachen von der Antike bis heute wolltest, hast du in deinem Ursprungsposting nicht dargelegt. Könnte ich dir gerne anfertigen, wird aber mind. ne Woche dauern und nicht ganz billig, dafür bräuchte man nämlich schon ein Buch nicht geringen Ausmaßes.
Das schöne an chinesischen Anreden ist ja, dass es um die hundert verschiedene gibt - für verschiedene Geschlechter in verschiedenen Liasonszuständen in verschiedenen hierarchischen Ebenen und das natürlich über die Jahrhunderte immer anders. Dabei als generelle Regel immer möglichst höflicher ansprechen.

Wo hast du denn dein Zitat her? Um modernes Neuchinesisch geht es da nicht. Es ist da ganz und gar üblich sich mit „Du“ (weitaus häufig als „Sie“), er und sie anzusprechen.

Was dort beschrieben ist, trifft auf modernes Chinesisch (ab 15 Jh., ja, frag nicht.) zu und ist vergleichbar damit, wie man in Deutschland ein direktes gegenüber mit „er“ angesprochen hat, nur etwas weniger herablassend.
Ungefähr gleich-alte bis etwas ältere Männer wurden dann mit „großer Bruder“ angesprochen, wenn sie wichtig waren mit „ehrenwerter Bruder“. Waren die Männer jünger, waren sie „kleiner Bruder“, das galt v.a. für Kollegen. Frauen die Dienstleistungen ergaben oder fürsorglich waren ohne Mutter zu sein waren die „ältere Schwester“, sorgten sie auch für Kinder „jüngere Tante“ bzw. wenn verheiratet „werte Dame“. Jüngere Frauen, die man nicht heiraten wollte, wurden „kleine Schwester“ genannt. Usw.
Das macht man heute (und da zählen auch die 70er Jahre zu) nicht mehr so. Kollegen werden mit „lao Wang“ angesprochen, wenn der Kollege mit Nachnamen Wang älter oder höher gestellt ist und mit „xiao Wang“ wenn Kollege Wang jünger oder ungelernter ist.
Junge Frauen werden meist mit der „jüngere Tante“ angesprochen, so ab 40 dann mit „Taitai“ (verheiratete Dame, egal ob verheiratet oder nicht). Sehr ehrenwerte (z.B. akademische) Damen werden wie die Männer auch „xiangsheng“ (Herr) genannt.
Ansonsten sind viele Ansprachen an den Beruf gekoppelt, so gibt es eine handvoll eigene Ansprachen für einen Direktor. So katzbuckelnd wie früher wirds aber kaum noch.

Beim Ich stimmt der Artikel auch eher für die Zeit vor der Kulturrevolution, da man andere überhöht muss man sich selbst natürlich erniedrigen. Wörtlich übersetzt hört ich das natürlich ganz toll und exotisch an - aber letztenendlich ist das auch nicht mehr als das deutsche „Meine Wenigkeit“ oder „euer ergebenster Diener“.
Das höflichste was davon heute noch übrig geblieben ist, ist „benren“ (Wurzelmensch, bitte nie so übersetzen, das ist nur die wörtliche Wiedergabe) was soviel wie „meinereiner“ auf sehr höfliche und demütige Weise heißt, oder im Geschäftskontext „xiaode“ („vom Kleinen“).
Aber viele „ichs“ sind auch dialektabhängig oder man kann ihre Höflichkeit nicht im Schema einordnen, so heißt „yu“ ein sehr archaisches „ich“ auch „Überschuss“. (übrigens heißen die meisten archaischen „ich“ auch _yu_, werden aber mit völlig unterschiedlichen Zeichen (und Bedeutungen) geschrieben).

Heute heiß „ich“ wo 我, haste bestimmt schon einmal gesehen. Dieses Zeichen besteht aus Speeren! Man kennt es aus dem „Riten“ Zeichen, wo Speere und Schaf ein Opfer darstellen. Es ist ein sehr martialisches, egoistisches „ich“. Darum war es lange Zeit quasi tabuisiert und es galt als sehr, sehr unhöflich es zu benutzen. Man hat umschreibungen oder wu 吾 benutzt.
Das ist jedoch schon in den 1930ern (!) vom Dichter Guo Muruo revolutioniert worden und seit dem kann man ganz normal auch „wo“ verwenden, ist den den 1960ern/70ern also schon ein alter Hut.

Das der Text den du da gefunden hast älter ist weißt auch die letzte Frage hin: Vor der Landrevolution war es vielleicht noch wichtig aus welcher Familie man stammte, aber ohne Adel und Beamtenkasten war das dann auch wurscht. Heute fragt man nach Beruf und Einkommen um die Hierarchie des Gegenübers und die zu verwendende Sprache abschätzen zu können.

aber ich dachte, hier gibt es möglicherweise auch einen Kenner, der mir zu etwas Lokalkolorit verhilft.

Pff. Das nehm ich jetzt als Beleidigung auf.
Wie wärs, wenn du bei Gelegenheit mal in die Vika von den Leuten guckst, denen du gerade vorwirfst sie kennen sich nach jahrelangem Studium und arbeiten im chinesischen Kontext sowie Reisen und Forschungen vor Ort nicht genug aus?

Als ob ich dir im Fremdsprachenbrett nicht bereits das ein oder andere Mal offenbar auch erfolgreich ausgeholfen hätte. Püh.

gruß,
Kate

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Hallo, Kate!
Ein Sternchen für Dich und Danke für den Informationsgehalt Deiner Antwort.

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich keineswegs die Absicht hatte, hier irgendjemanden anzugreifen, zu beleidigen, zu schmälern oder ihm/ihr in welcher Weise auch immer an den „ehrwürdigen alten Wagen“ zu fahren. Falls ich den Eindruck erweckt habe - bedaure.

Meinerseits möchte ich nicht verhehlen, dass ich über den Ton der Antwort ein wenig bestürzt bin.

Gruß,
Eva

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Hallo!

,:In der Situation in dem Buch ist „revered Sir“ daher einfach

nur sowas wie „geschätzer Herr“, ohne irgendwelche besondere
Unterwürfigkeit.

Okay, aber „revered“ hat schon ein gewisses Gewicht (sorry, mir fällt grade kein gescheiterer Ausdruck ein), begleitet von zusammengelegten Handflächen und ununterbrochenen Verbeugungen, drückt es nach meinem Empfinden durchaus etwas anderes aus, als „Guten Tag, Herr XY“, aber wie gesagt, ich kenne mich da nicht aus und lasse mich gern eines Besseren belehren.

Vielen Dank für Deine Ausführungen und Gruß,
Eva

Hi,

begleitet von zusammengelegten Handflächen und ununterbrochenen Verbeugungen, …

Dann ja. Aber darum ging es ja nicht, sonst hättest Du es ja erwähnt - oder?

1969 sitzt ein Engländer in Bangkok und erhält Besuch von einem sehr liebenswürdigen Chinesen, der als Agent des Geheimdienstes einmal höflich nachfragen soll, ob der Fremde im Sinn hat, sich an irgendwelchen konterrevolutionären Aktivitäten zu beteiligen. Die Autorin lässt ihn „revered sir“ sagen.

Gruss
K

Dann ja. Aber darum ging es ja nicht, sonst hättest Du es ja
erwähnt - oder?

Richtig. Ich hätte näher auf den Kontext eingehen müssen … :frowning:

Gruß,
Eva