Ich glaube, dass diese Norm von vorne herein komplexer ist, und dass man nicht sagen kann: das ist die Norm, und erst im Detail wird sie komplex.
Natürlich findet die Norm „Vorrang des Schutzes von Leben und Gesundheit vor ökonomischen Interessen“ hohe Zustimmung, aber ganz wenig funktioniert tatsächlich nach dieser Norm (die „Flüchtlinge“ wurden schon vorgebracht, da gäbe es noch ganz viele Beispiele), so dass die Norm wesentlich auch eine Art „Anwendungsnorm“ beinhaltet, wann diese Norm gilt und wann nicht.
Und das ist dann diese Normativität, die entscheidend ist als Leitlinie des politischen/ökonomischen/gesellschaftlichen/usw. Handelns, während „Vorrang des Schutzes von Leben und Gesundheit vor ökonomischen Interessen“ alleinstehend aus meiner Sicht nur eine Floskel ist ohne große Wirkmächtigkeit.
Um es arg platt herunter zu brechen: bei Flüchtlingen (und die sind nur ein Beispiel dafür) würden wir sagen „Wir können nicht allen helfen. Es geht halt nicht!“ (das ist gegenwärtig ja auch der Fall).
Warum sagen wir es hier bei Corona nicht?
Natürlich sind die Gegebenheiten faktisch sehr unterschiedlich und deshalb erste Antworten natürlich auch leicht zur Hand, aber dennoch kann man wohl auf die Frage hinaus, warum der Grundsatz „Vorrang des Schutzes von Leben und Gesundheit vor ökonomischen Interessen“ an diesen Stellen greift und an jenen nicht.
Das ist jetzt aber eine Verengung der UP-Frage gewesen.
Wenn ich es so reduziert gemeint hätte, hätte ich es auch so geschrieben.
Der Punkt ist ja, dass die Corona-Krise für mein Empfinden so dermaßen komplex und opak ist, dass ich nicht einmal konkrete Fragen dafür finden kann, geschweige denn Antworten oder „Meinungen“.
Da stimme ich natürlich zu.
Aus meiner Sicht ist das -wie eben dargelegt- aber nur ein nachgelagerter Aspekt.
Ich glaube eben, dass die normativen Vorstellungen selbst bereits komplexer und vielleicht auch in sich widersprüchlicher sind. Und zwar eben als Norm schon, und nicht erst als Konsequenz.
Was heißt das konkret?
… und vor allem auch das politische und das Rechtssystem.
Ich stimme dir bei diesen Zeilen vollkommen zu.
Ich hoffe, dass man sieht, dass wir nicht nur Atemmasken und Schutzkleidung brauchen, sondern z.B. auch klarere und in „normalen Zeiten“ breit diskutierte Regelungen für den Umgang mit Zuständen, in denen die Exekutive „durchregieren“ muss.
Aber das würde jetzt in ein spezielleres Thema abrutschen.
Der Suizid ist doch nur das plakativste Beispiel für ein ganzes Gemenge an diffusen Rückwirkungen der Anticoronamaßnahmen auf die Gesundheit der Bevölkerung.
Vgl. beispielsweise https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/coronavirus-masern-herzinfarkt-depression-1.4872320
Wenn dort im Artikel von einem 3,3-prozentigem Anstieg der Suizide nach der Finanzkrise geschrieben wird, dann kann man sich den Anstieg vorstellen, der uns droht mit noch tieferer Wirtschaftskrise, mit sozialen Isolierungsmaßnahmen usw.
Aber, wie gesagt, Suizid ist nur der plakativste Teil-Aspekt.
Diese Abwägungen nehmen mittlerweile klar zu.
Bis vor kurzem hatte ich aber (sowohl hier im Mikrokosmos wewewa als auch in der großen Welt) in der Tat den Eindruck, dass sehr wenig abgewogen und differenziert wird. Ich hatte einige Zeit lang das Gefühl, in einer Welle zu ersaufen, und damit meine ich nicht die Infektionswelle.
Ich habe ein Riesenproblem damit, wenn dem Gesundheitssystem ein Primat zugesprochen wird, und wenn es nur vorübergehend sein sollte, was es m.E. nur teilweise ist, denn es ist aus meiner Sicht kein bloßes Krisenphänomen, dass das Gesundheitssystem einem immer größere Rolle erhält bzw., systemtheoretisch gesprochen, das politische System und das Gesundheitssystem stärker aneinander gekoppelt werden.
Als „Gesundheitsdikatur“ wird das ja (zu schrill) hin und wieder diskutiert.
Gruß
F.