Hallo!
Mein alter Prof., der, bei dem ich so selten sein konnte, weil er seine Seminare immer gern auf 8.00 morgens gelegt hatte, schreibt hier klug:
Für uns Soziologen zeigt sich gerade mit großer Deutlichkeit, wie eine moderne Gesellschaft in Zielkonflikte zerfällt: Manche Virologen sagen, wir sollten eigentlich noch viel länger in diesem Lockdown bleiben, manche Ökonomen sagen, das können wir uns noch maximal drei Wochen leisten. Die politischen Parteien fragen sich, wie lange man der Bevölkerung das noch zumuten kann, ohne dass ihre Loyalität zerstört wird. Und die Psychologen sagen, die Zahl der Depressionen wird steigen, die Suizidraten werden steigen, die häusliche Gewalt wird zunehmen.
…
Das Verrückte ist, sie haben alle recht – auch wenn sie sich wechselseitig widersprechen. Das ist das, was eine komplexe moderne Gesellschaft ausmacht. Insofern ist Ihre Frage, wie lange wir das aushalten, nicht mit einem klaren Satz zu beantworten. Man kann es nur normativ beantworten: Wir müssen es so lange aushalten, bis die Gefahr, dass es durch ein zu frühes Lockern zu einem Wiederanstieg der Infektionszahlen und einer Überlastung von Kliniken kommt, tatsächlich ausgeschlossen werden kann.
Das Fettgedruckte führt zu meiner/n Frage/n:
Worin besteht diese Normativität denn konkret?
Aufgedröselt auf die drei genannten Aspekte:
Welche Normativität verlangt, dass das Wirtschaftssystem überlastet werden darf, aber das Gesundheitssystem nicht?
Welche Normativität verlangt, dass die psychischen Systeme einzelner Menschen überlastet werden dürfen (Suizide, häusliche Gewalt, Depressionen usw.), aber das Gesundheitssystem nicht?
Welche Normativität verlangt, dass das politische System überlastet werden darf (Suspendierung von Grundrechten, Kriegsrhetorik, Ermächtigungsgesetze, Schwächung der Idee „EUropa“; Gefährdung der Demokratie° usw.), aber das Gesundheitssystem nicht?
Man könnte jetzt alle Funktionssystem der Gesellschaft durchdeklinieren, aber drei reichen ja schon.
Zusatzfrage:
Ist das eine allgemeine bzw. altbekannte Normativität oder eine eher neuartige oder gar ad-hoc Normativität?
Also z.B. eine, die plötzlich skandalisiert, dass Coronatote in New York in Massengräbern massenverschart werden, aber das Massenverscharen in Massengräbern in New York vorher nie sonderlich groß thematisiert hatte.
Oder z.B. eine, die Aussagen im Stil von „statistisch betrachtet wären die meisten Corona-Toten eh relativ bald verstorben“ (der Rechtsmediziner Püschel äußerte sich in den letzten Tagen etwa in der Art) hochentrüstet den Vorwurf des Zynismus macht und betont, jedes Leben wäre gleichwertig, die sich aber nie in annähernd ähnlich starker Weise beispielsweise daran gestört hat, dass die deutsche Unterschicht ca. 10 Jahre früher stirbt als die deutsche Oberschicht (und deshalb, nebenbei erwähnt, in puncto Rente ganz schön übers Ohr gehauen wird).
Gruß
F.
Quelle: https://www.uni-muenchen.de/forschung/news/2020/nassehi_corona.html
[verschlagwortet vom www Team]