Ich beschäftige mich gerade mit der Philosophie des Cusanus und ich bin
an einem Punkt hängen geblieben. Ich verstehe nicht ganz, was Cusanus
damit meint wenn er von der Wissenden Unwissenheit spricht. Mir ist
klar, welche Schritte er unternimmt um bis zu diesen Gedankengang zu
kommen. Also, zumindest glaube ich dass ich diese Schritte verstanden
habe. Letztlich kommt Cusanus ja zu einem Punkt, an dem er feststellt, dass das Unendliche (Gott) nicht mit dem endlichen Verstand gefasst werden kann und deshalb möchte er auf das „wissende Unwissen“ zurückgreifen. An diesem Punkt bin ich mir nicht sicher, ob ich seinen Ausführungen folgen kann. Ich befürchte auch, dass ich bereits zu sehr aus anderen Sozialwissenschaften geprägt bin, um sein Denken korrekt nachvollziehen zu können.
Cusanus meint ja nicht auf Wissen zu verzichten.
Was aber heißt für ihn wissende Unwissenheit? Ich würde mich sehr freuen wenn jemand
von euch mir diese Frage reflektieren könnte!
Es geht darum, auf Verstandes-Wissen zu „verzichten“ (wobei auch die „Vernunft“ hier noch dazu zählt).
Letztlich ist für Cusanus, eine traditionelle Vorstellung, Gott ein „ens simplicissimum“, also „absolut einfach“, und 'einfach’nicht im Sinn einer einfachen Leere, sondern im Sinne einer völlig differenzlosen Fülle.
Der menschliche Verstand kann nicht anders, denn etwas mit Hilfe von Differenzen erfassen. womit er unweigerlich an Gott vorbei-denkt.
Um Gott also erspüren zu können, muss der Mensch seine (differentiellen) Verstandesbegriffe ausschalten -> ignorantia.
Das heißt aber nicht, dass er sich dumm stellen soll bzw. dass nur die größten Schwachköpfe Gott erspüren können, sondern er muss sich mit Hilfe seiner (Verstandes)Gelehrtheit von seiner (Verstandes)Gelehrtheit lösen -> docta ignorantia: „tanto quis doctior erit, quanto se magis sciverit ignorantem“.
Nicht, dass das wichtig für die Beantwortung deiner Frage wäre, aber: hää? wie meinen?
Ich hatte es mir so ähnlich auch gedacht, hatte aber das Problem, dass ich den Menschen nicht ohne Vorbildung denken kann. Der Mensch ist ja per definitionem ein soziales Wesen und bekommt als solches von vorn herein Bildung, Vernunft oder Wissen mit auf den Weg. Alles wird ja ständig ins Verhältnis gesetzt und ohne geht es nicht.
Ich verstehe, was Cusanus will, aber das funktioniert nicht aufgrund der Sozialisation des Menschen, oder?
(das meinte ich mit Sozialwissenschaften)
Es ist natürlich schwierig, das spät-/postscholastische Denken eines Nikolaus von Kues’ mit modernen Sozialwissenschaften in Verbindung zu bringen. Da liegen Jahrhunderte an Ideengeschichte dazwischen.
Ich glaube aber, dass diese „docta ignorantia“ durchaus nicht so weit weg ist von der Husserl-phänomenologischen „epoché“, die fast dem ganzen heutigen Paradigma der „Verstehenden oder Interpretativen Sozialwissenschaften“ zu Grunde liegt.
Bei der Phänomenologie gehts ja auch darum, dass der Forscher für die Erkenntnis eines Gegenstandsbereichs sein Vorwissen über diesen Gegenstand (zunächst) ‚ausklammert‘, um so unverstellt an den Gegenstand herankommen zu können.
Der Punkt ist, dass bei beiden, bei Cusanus wie bei der Phänomenologie, der Forscher Wissen haben muss, um Wissen ausklammern zu können. Es geht eben, um `'docta ignorantia, nicht um einfache ignorantia, wie sie ein Neugeborenes vor jeder Primärsozialisation oder ein Laie vor jeder beruflichen Sekundärsozialisation zum Wissenschaftler hätte.
Insofern glaube ich nicht, dass bei Cusanus die „Sozialisation“ im Weg steht, auch wenn er die damals natürlich noch nicht mal im Ansatz begreifen und entsprechend all dieses kulturell-selbstverständliche Wissen nicht in sein Denken aufnehmen konnte.
ego cogito cogitatum…
Der gute Husserl wollte („Epoché“) einen apodiktischen
Boden im Sinne der Letztbegründung finden. Nur hat
alles Bewusstsein eine intentionale Struktur - ist Teil von
etwas. Ego…
Im Bereich des Göttlichen erfährt die menschliche
Vernunft das Schicksal der „Coincidentia Oppositorum“.
Die höchste Stufe menschlicher Erkenntnis ist die Einsicht
in die eigene Ohnmacht, äh Unwissenheit.
Gar nicht so ungeschickt dein Bogen, den du zu
Husserl schlägst.
Gemeinsam ist jedenfalls der Bereich des „Extramundanem“.
Man steht in einer Metaebene über der Welt. Und nur
dort findet man jenen apodiktischen Boden, wenn nur
dieses blöde Zusammenfallen nicht wäre. So wie ein
Kreis mit unendlichem ø in seiner Geraden zusammenfällt.
(Schön mal wieder eine uralte, ausgenützte Metapher
hervorzugraben!)
Und auch so wie ein Hecht im Karpfenteich sich von eben diesen
ernährt und doch ein anderer ist.
Man hats halt nicht leicht in der Welt der Unwissenheit
und hat sich dann zu allem Überfluss auch noch dem „Wissen“
verpflichtet.
Dass du hier noch mitliest, lieber Esox … freut mich!
Yepp.
Solcherlei Probleme hatte der gute Nikolaus aus der Mittelmosel natürlich noch zwei hundert Jahr lang nicht.
Nu, ja, so wohl.
Ich bin ja ein extremer Mittelalter-Dummy (meine höchstpersönlichen Dark Ages quasi), so dass ich solche wichtige -Ismen wie den Thom-, Scot- usw. nur aus ihrer nachträglichen Überwindungsperspektive kenne. Da habe ich den Eindruck, ein Spinoza etwa wollte mir sagen, dass es sich diese Mittelalter-Theophilosophen in folgendem wichtigen Punkt arg leicht gemacht haben: mit der logozentrischen rechten Hirnhälfte einen logischen Widerspruch denken, um ihn mit der kreativen linken Hirnhälfte als nur-menschlich-logisch abzuqualifizieren, so dass der Herrgottswinkel zum toten Winkel des Denkens werden musste.
O Sancta Ignorantia!
Anders gesagt: wer die eigene Ohnmacht so bereitwillig einsieht, der geht damit jeder Kritik der (kirchlich-gesellschaftlichen) Macht verlustig. Es wundert wenig, dass ein Spinoza exkommuniziert, aber ein Thomas kanonifiziert worden ist.
Damit hast du mir schön aufgezeigt, wie „verpsychologisiert“ mein Denken inzwischen geworden ist.
Ich hatte als Gemeinsames (nicht nur dieser beiden, aber bei diesen beiden stark im Vordergrund) das im Sinn, was wir Psychos eine „gute“, weil im Dienst des Ichs stehende, „Ich-Spaltung“ nennen könnten.
Das ist im Grunde nicht so sehr verschieden von dem, was du vorbringst, in der Tat wird es aber Husserl („zu den Sachen“) nicht nur nicht gerecht, es nimmt ihn auch nicht ernst.
Es sei denn natürlich, man nimmt ihn „ganz besonders ernst“, sprich: verpsüschologisiert ihn: Da gerät man in die Phantasie hinein, dass dann, wenn so ein Ed-mund (Husserl) vom Extra-Mund(anem) spricht, ein Stück Ich-Spaltung im Spiel gewesen sein könnte
Ob die Philosophie rein zufällig ausgerechnet von einem Re-Natus wiedergeboren worden ist, fragt man sich da auch noch obendrein, wenn man schon dabei ist.
Diese Metapher müsste jedenfalls ganz sicher im Wörterbuch eines mittelalterlichen Theophilosophen zu finden sein (siehe oben)
man kann auch ein Schiff über einen Berg ziehen, wenn man vom
Willen beseelt ist, Unmögliches zu vollbringen und eventuelle
„Kollateralschäden“ in Kauf nimmt.
Man sieht der zum Erbrechen nüchternen Sprache Husserls nicht
an, welche innere Not dieser gelitten und die ihn getrieben hat!
So ist dein püschologischer Ansatz keineswegs falsch, nur eine
andere Betrachtensweise. Wie jeder „Fall“ mindestens zwei Seiten hat,
bleibt der Reduktion oder Abstraktion kein dogmatisches Vorrecht!
Das machen solche threads ja gerade aus! Die individuelle Sicht
wird erweitert. Und dass die Scholastiker unter „ihrem“ Dogma
ebenso gelitten haben, wie Husserl unter dem seinen, brauche
ich nicht ausgerechnet dir zu erklären.
Husserls transzendentales „Ich“ ist ja z.B. auch dem absoluten
Denken der neukantianischen Erkenntnislogik verwandt,
man findet viele Schnittmengen, selbst in sich scheinbar
widersprechenden Systemen. Im Unendlichen schließt
sich dieser Kreis in einer Geraden!