Hallo, liebe Gemeinde,
folgende merkwürdige Situation ist mir gerade aufgefallen: Jemand stellt in einem Forum ähnlich diesem hier, allerdings spezialisiert auf Recht, eine Frage. Antworten gehen ein, die - wie den Usernamen und den Unterschriftsformeln zu entnehmen ist - u.a. von Rechtsanwälten verfaßt wurden. Auch ein Polizeibeamter ist dabei. Alle Antworter siezen den Fragesteller, verwenden darüber hinaus teilweise sogar höflichen, formellen Briefstil. Der Fragesteller hat Rückfragen - und duzt die Antworter völlig unbeeindruckt, als ob das selbstverständlich sei. Und dieser Fall ist in jenem Forum kein Einzelfall.
In einer „realen“ Gesprächssituation wäre das undenkbar. Man stelle sich vor: Jemand sucht einen Rechtsanwalt auf, nimmt in dessen Besprechungsraum Platz und beginnt das Gespräch mit dem Anwalt mit den Worten „Hör mal, Du, ich hab’ da mal 'n Problem…“. Und das gilt bekanntlich nicht nur für das Gespräch beim Anwalt.
Was treibt die Leute, in der Kommunikation per E-Mail (die Kommunikation im Forum ist nichts anderes, mit dem Unterschied, daß niemand den Kreis derer kennt, die die Nachricht letztlich lesen) sämtliche Umgangsformen über Bord zu werfen und sich stattdessen einer Sprache zu bedienen, die im wirklichen Leben vorwiegend unter pickligen Teenies auf Schulhöfen üblich ist? Müßte nicht die Tatsache, daß der Teilnehmer einer Kommunikation per Internet über sein Gegenüber noch viel weniger weiß, als derjenige, der seinem Gesprächspartner „live“ gegenübersteht, eher umgekehrt zu noch mehr sprachlicher Umsicht und Höflichkeit Anlaß geben, als es im „realen“ Gespräch üblich ist?
Grüße,
ATN
PS: Die beliebte Schein-Begründung „Das ist halt im Web so üblich, und wenn Dir das nicht paßt, dann kannst Du ja gehen“ erkenne ich übrigens nicht an. Erstens, weil das keineswegs „im Web so üblich“ ist, wie ein Blick auf jede halbwegs seriöse Webpräsenz, die nicht Musik, Spiele oder Hausaufgaben zum Gegenstand hat, zeigt. Zweitens, weil es nicht im Web schlechthin, sondern allenfalls unter bestimmten „Menschengruppen“ (vorzugsweise Computerspieler, Vielsurfer, Hacker, Kinder) „so üblich“ ist (wobei allerdings zuzugeben ist, daß gerade diese Gruppen intensiv in bestimmten Bereichen des Netzes präsent sind).