Daran will niemand rütteln. Aber Richtlinienkompetenz heißt nicht Durchregieren ohne Parlament - das ganze Parlament! Deshalb braucht’s zum Funktionieren einer Minderheitsregierung Vereinbarungen zu grundsätzlichen Themen mit einer duldenden Partei. Andernfalls würde schon die Kanzlerwahl scheitern.
Man kann davon ausgehen, dass der Bundestag nicht überwiegend aus Anarchisten, sondern aus Leuten besteht, die zwar in vielen Details unterschiedlicher Meinung sind, aber grundsätzliches Interesse an einer arbeitsfähigen Regierung haben.
Zum Funktionieren einer Minderheitsregierung wäre es förderlich, sich von Gepflogenheiten seit Einzug der Grünen Anfang der 80er in den Bundestag zu verabschieden. Die Grünen wurden damals ausgegrenzt, insbesondere Mitgliedern der C-Parteien entglitten die Gesichtszüge beim Gedanken, sie z. B. in sicherheitsrelevanten Ausschüssen dabei zu haben. Später wiederholten sich die gleichen Vorbehalte gegenüber den Linken. Das ist noch nicht überwunden und nun kommt auch noch die AfD dazu. Solche Vorbehalte sind idiotisch, wenn es um Mehrheiten bei Sachfragen geht.
In jeder Dorf-Gemeindevertreterversammlung schaffen es die Mitglieder, sich konstruktiv mit Sachfragen zu beschäftigen, statt unentwegt irgendwelches Parteien-Machtgerangel zu veranstalten. Wie es so rein nichts mit Parteien zu tun hat, ob das Feuerwehrhaus neu gedeckt werden muss, kann man ideologiebefreit über Sachfragen auf Bundesebene befinden, Natürlich haben die verschiedenen Parteien und einzelnen Abgeordneten unterschiedliche Prioritäten. Wer etwas durchsetzen will, muss durch Überzeugung und/oder Kuhhandel Mehrheiten suchen.
Bisher zeigen unsere Volksvertreter Demokratiedefizite. Sie sind daran gewöhnt, dass vom Fraktionsvorsitz die Ansage kommt, an welcher Stelle das Händchen zu heben ist. Das machen sie wie geheißen und die Sache geht qua Mehrheit der Regierungspartei/en durch. Opposition kommt bei solchen Überlegungen gar nicht vor, Argumentationen und Überzeugungen auch nicht. Hat mit Demokratie wenig zu tun und genau das ging etlichen Wählern gegen den Strich.
Mehr Demokratie wagen, verkündete Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung, aber mit Leben erfüllt wurde das Versprechen nie (mir ist bewusst, dass Brandt dabei nicht an Minderheitsregierung dachte). Es sollte nun endlich passieren. Politik sollte von Interessenausgleich geprägt sein und dazu gehören eben auch die Vorstellungen der Opposition, wenn das Parlament mit über 700 Nasen überhaupt irgend einen Sinn haben und nicht zur Alibiveranstaltung verkommen soll.
Wenn die Sozis nicht von allen guten Geistern verlassen sind, gehen sie nach ihrem 20%-Ergebnis nicht erneut in eine Groko. Auch für die Unionsparteien war die Groko alles andere als ein Erfolgsmodell. Wer nicht nur auf Zeit und russisches Roulette spielt, strebt keine Neuwahl an. Wäre immerhin möglich, dass ein ähnliches oder noch schwierigeres Ergebnis heraus käme. Groko war nicht so gut, Jamaika scheitert schon vor dem Start, bleibt doch nur eine Minderheitsregierung. Ob überhaupt und wen die C-Leute mit ins Boot holen, ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist nur eine in einigen entscheidenden Punkten tolerierende Partei, die zunächst die Kanzlermehrheit sichert. Dann können wir uns auf etwas nie Dagewesenes freuen: Bundestagsdebatten als Straßenfeger.
Wenn ich träumen darf: Die Sozis bauen einen Schulz-Nachfolger auf, verabschieden sich von personellen Resten aus der Schröder-Ära, überwinden die Berührungsängste zu den Linken, die sich ihrerseits auf die Wagenknecht-Linie einigen und sich von nicht mehrheitsfähigen Vorstellungen zur Zuwanderung trennen, sodann kümmert man sich um öffentliches Profil und Schnittmengen mit den Grünen und stellt die nächste Minderheitsregierung mit C-Parteien, FDP und AfD als Opposition.
Gruß
Wolfgang